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Wilder Oleander

Wilder Oleander

Titel: Wilder Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Harvey
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früh … «
    Ophelia schaute auf die Uhr. Kurz vor acht. Der Jet musste gleich landen. Sie wandte das Gesicht dem tiefblauen und so unendlich weiten Himmel zu. Demselben Himmel, unter dem auch schon vor Millionen von Jahren Menschen gelebt hatten.
    Menschen, mit denen Ophelia sich befasste.
    »Wenn nicht Prostitution, was ist
dann
das älteste Gewerbe?« Die Stimme des Interviewers wurde von der von Duft erfüllten Brise fortgetragen. Ophelia saß in einem der üppig blühenden Gärten von The Grove. Ihrer Erwiderung lauschend,
tippte sie gleichzeitig in ihren Laptop: »Archäologische Funde lassen darauf schließen, dass Höhlenbewohner in nach Geschlecht getrennten Gruppen zusammenlebten. Für die Nahrungssuche und um beschützt zu werden waren die Frauen nicht auf die Männer angewiesen, sie hatten ja die Gruppe. Dementsprechend war es nicht nötig, sexuelle Gunstbeweise ›zu verkaufen‹. Ihr Paarungsverhalten unterschied sich nicht von dem der Tiere. Erst als sie anfingen, zu Zweierbeziehungen zusammenzufinden und die Frau sich in punkto Schutz und Nahrung vom Mann abhängig machte, wurde Sex zum Tauschhandel. Davor gab es bereits weit wichtigere Berufe. Den Heiler oder Schamanen. Den Heilkräutersammler. Den Hüter des Feuers. Ohne sie wäre ein Überleben nicht möglich gewesen, weshalb solche Mitglieder von der Gruppe hoch geehrt und mit Gunstbezeugungen überhäuft wurden.«
    »Dr.Kaplan?«
    Ophelia unterbrach ihre Tipperei und blinzelte hinauf zu dem Störenfried, der da in der Sonne vor ihr stand. Die Krankenschwester. »Das Flugzeug ist eben gelandet. Ich bin auf dem Weg dorthin, um die Lieferung abzuholen. Wenn Sie sich also in meine Ordination bemühen würden … «
    »Nein«, fiel Ophelia ihr ins Wort. »Ich möchte den Test lieber allein vornehmen.« Schließlich war sie deswegen hier, weit weg von David, ihrer Mutter und ihren Schwestern. Dies war etwas, dem sie sich allein stellen musste.
    Die junge Frau lächelte. »Gut. Dann komme ich in, sagen wir, fünfzehn Minuten bei Ihnen vorbei?« Und schon war sie weg, Ophelia sah nur noch den langen schwarzen Zopf auf ihrem Rücken wippen.
    Fünfzehn Minuten. Dann würde Ophelia wissen, woran sie war. Womit sie zu rechnen hatte.
    »Ich bin froh, dass wir, was Kinder anbelangt, die gleiche
Einstellung haben«, hatte David gesagt, als sie das erste Mal vom Heiraten sprachen. David wollte keine Kinder. »Zu gefährlich«, meinte er im Hinblick auf das schadhafte Gen, auf das er positiv getestet worden war. »Wir haben doch uns und unsere Arbeit.« Ophelia hatte ihm beigepflichtet. Angesichts dessen, was ihre Schwester mit Sophies unheilbarer Krankheit durchgemacht hatte, an der die Kleine, noch keine fünf Jahre alt, gestorben war, hatte sie sich geschworen, niemals ein Baby zu bekommen. Und war erleichtert gewesen, einen Mann gefunden zu haben, der ebenfalls so dachte.
    Dann komme ich in fünfzehn Minuten bei Ihnen vorbei …
    Ophelia schaltete das Tonbandgerät ab, klappte ihren Laptop zu und sammelte ihre Unterlagen zusammen. In dem Augenblick, da sie von der Marmorbank aufstand, drehte der Wind, und ein Duft, den sie vorher nicht wahrgenommen hatte, drängte sich ihr auf.
    Sie taumelte, griff nach dem Laternenpfahl, um sich festzuhalten. Der Duft war überwältigend. Betäubend – zu süß, um angenehm zu sein. Und dennoch vertraut. Sie wusste nicht, von welchen Blumen er herrührte – aber sie kannte ihn! Woher nur? Was verband sich damit?
    Unvermittelt tauchten verschiedene Bilder vor ihr auf: Ein Krankenhauszimmer mit vielen Blumensträußen, ein Wartezimmer voller Leute, Ophelia als Kind, um Atem ringend und verängstigt.
    Eine Erinnerung? Aber woran?
    Sie ging dem betäubenden Duft nach, bis sie entdeckte, dass er von einer langstieligen Blume mit weißer Blüte herrührte. Dem Schildchen nach eine Narzisse. Die so intensiv roch, dass ihr davon übel wurde. Und ihr Angst machte. Kalter Schweiß brach aus, ein Schwindelgefühl überkam sie. Sie schleppte sich zu der Marmorbank zurück, ließ sich darauf nieder und presste die Stirn an die Knie.
     
    Nach wenigen Minuten war der Anfall – oder was immer es war – vorbei. Als sie in Schweiß gebadet und mit wackligen Beinen aufstand, durchzuckte sie eine Erinnerung: Sie war ein kleines Mädchen und saß anlässlich einer Familienfeier auf dem Schoß ihres Großvaters. Der damals noch gar nicht so alt war – sie erinnerte sich an sein dichtes schwarzes Haar und sein kehliges Lachen. Irgendetwas

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