Wilder Oleander
hatte sich ereignet,
Zayde
Abraham hatte etwas gesagt oder gemacht, was ihr wehgetan hatte. Sie hatte es verdrängt. David war bemüht gewesen, ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, hatte es sogar mit Hypnose versucht – ohne Erfolg. Seiner Meinung nach rührte Ophelias übertriebener Ehrgeiz und ihr Übereifer von dem her, was damals passiert war.
Was hatte der Großvater gemacht?
Ophelia floh aus dem Garten, entfloh der Vergangenheit, den Moderatoren im Radio, die ihr unterstellten, promisk zu sein, dem betäubenden Duft einer Blume, die ihr unheimlich war.
Das Päckchen lag bereits in ihrem Zimmer. Sicherheitshalber hatte die Krankenschwester zwei Testeinheiten bestellt.
Ophelia schlug das Herz bis zum Halse, als sie die erste Schachtel öffnete.
»Auslöser der Tay-Sachs-Krankheit ist die Abwesenheit eines lebenswichtigen Enzyms, der Hexosaminidase A.« Die Stimme des Arztes kühl und sachlich, so als referiere er über den Lebenszyklus eines Froschs. Ophelia und ihre Schwester stumm und versteinert. »Träger dieser Krankheit lassen sich durch einen einfachen Bluttest feststellen, bei dem die Aktivität der Hexosaminidase A gemessen wird. Bei einem an TS erkrankten Kind sind grundsätzlich beide Elternteile Träger. Stellt sich heraus, dass beide Elternteile eine genetische Mutation an Hexosaminidase A aufweisen, stehen die Chancen, dass ein Kind an Tay-Sachs erkrankt, bei jeder Schwangerschaft 1 : 4 .«
»Wie verhält es sich bei uns?«, hatte Ophelia gefragt und den Arzt an seinem Schreibtisch angestarrt. Der Schwager war nicht mitgekommen. Wie ihre Schwester war er bereits ausreichend informiert, schließlich war die kleine Sophie mit knapp fünf Jahren an TS gestorben. Wenn es nun bei einem weiteren Kind abermals dazu kommen würde?
»Die Chancen, TS -Träger zu sein«, hatte der Arzt entgegnet, »sind bedeutend höher, wenn er oder sie jüdischer Abstammung ist und aus dem osteuropäischen Raum kommt, also ein Aschkenasim ist. Was, soweit ich weiß, auf Sie zutrifft. Mehr oder weniger einer von jeweils siebenundzwanzig Juden in den Vereinigten Staaten ist Träger des TS -Gens.«
Bedrückt waren sie aus der Praxis gekommen. Sechs Monate später hatte der Schwager ihre Schwester sitzen gelassen.
Und dann hatte Ophelia David kennen gelernt, einen Aschkenasim, der sich vor einigen Jahren im Hinblick auf eine damals bevorstehende Heirat hatte testen lassen und bereits wusste, dass er TS -Träger war. »Ich will keine Kinder«, hatte er gesagt, als die Beziehung zu Ophelia enger wurde. Auch Ophelia hatte erklärt, sie wollte keine, ihr berufliches Fortkommen sei ihr wichtiger. Fragte sich, ob es ihr damals wirklich ernst damit gewesen war. Sie wollte David, sie wollte Karriere machen. Kinder waren eher ein Thema am Rande gewesen, über das sie sich gar nicht erst den Kopf zerbrochen hatte. An Sophies Grab hatte sie sich geschworen:
Mir wird das nie passieren.
Sie hatte sich keinem genetischen Test unterzogen. Sie verhütete ja. Eine mögliche Schwangerschaft war somit in weite Ferne gerückt. Trotzdem riet man ihr, sich testen zu lassen. Wenn sie gefragt wurde, warum sie sich weigere, konnte Ophelia nur sagen: »Weil das nicht nötig ist.« David dagegen nahm an, Ophelia wollte nur nicht damit konfrontiert werden, eventuell positiv zu sein, weil sie sich einbildete, erfolgreich
und perfekt in allem sein zu müssen. Dass eine Genmutation eine Sache bei anderen Leuten wäre.
Jetzt aber, da sie mit zitternden Händen den Teststreifen auswickelte, wünschte sie, sie hätte sich dem genetischen Test unterzogen. Wuchs da ein Kind in ihr, dem es bestimmt war, vor seinem fünften Geburtstag zu sterben?
Sie tauchte den Teststreifen in die Urinprobe und sah zu, wie er sich verfärbte. Anders als bei der ersten Packung, wo zwei rosa Streifen eine Schwangerschaft nachgewiesen hätten, sollte hier das Ergebnis in Worten erscheinen.
Nach sechzig Sekunden zeichneten sich, wie von Geisterhand gemalt, winzige schwarze Buchstaben auf dem Teststreifen ab.
Sie sind schwanger.
Kapitel 30
Auf dem Wohltätigkeitsbasar. Coco, die Wahrsagerin, sitzt in ihrem Zelt und wartet auf den nächsten Kunden. Nach einiger Zeit teilt sich der Vorhang und ein dunkelhäutiger Fremder tritt ein. Er zieht den Vorhang hinter sich zu, was in dem kleinen, nur von Kerzen erhellten Zelt eine anheimelnde und intime Atmosphäre schafft. Erwartungsvoll nimmt er Coco gegenüber Platz. Sie ist erstaunt. Männer gehen normalerweise nicht zu
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