Wildes Blut
bezeichnete.
»Was steht ihr denn hier herum und starrt mich an?« fragte Rachel zornig, um nicht zu zeigen, daß sie fürchtete, sie könnten etwas von ihrem schändlichen Verhalten in der Scheune wissen. »Ist mir noch ein Kopf gewachsen, oder was?«
»Nein, Ma’am«, sagten die älteren Kinder im Chor. Ihr Ton verriet, daß es nicht ratsam war, sie zu fragen, was passiert war.
Nur die kleine Naomi, die für ihre zwei Jahre äußerst gescheit war und deshalb auch sehr altklug und neugierig, wagte die Frage zu stellen, die alle am meisten beschäftigte.
»Hat Onkel Slade dich vertrimmt, Tante Rachel?« fragte sie unschuldig. »Bist du deswegen so böse?«
»Natürlich nicht! Also wirklich …«
»Heiliger Strohsack«, unterbrach sie Naomi aufgeregt, »meinst du damit, du hast ihn vertrimmt, Tante Rachel?«
»Ach du lieber Himmel! Natürlich nicht!« erwiderte Rachel entnervt. »Du hast vielleicht Ideen! Aber ich werde gleich eine gewisse impertinente kleine Lady vertrimmen, wenn sie nicht aufhört, so alberne Fragen zu stellen.«
»Bin ich wirklich impertinent, Tante Rachel?« fragte Naomi niedergeschlagen, da das offensichtlich keine erstrebenswerte Eigenschaft war.
»Ja, das bist du.«
»Oh«, Naomi überlegte kurz. Dann sagte sie in aller Unschuld: »Ich wette, Onkel Slade ist auch impertinent, deswegen bist du so böse.«
Rachel holte tief Luft, zählte stumm bis zehn und überlegte, wie wohl in Kansas das Erwürgen einer Zweijährigen bestraft würde.
»Naomi …«, begann sie.
»Ja, Tante Rachel?«
»Kein … Wort … mehr.«
»Ja, Ma’am.«
»Und was den Rest von euch betrifft«, Rachel sah sich streng im Zimmer um, »hört sofort mit dem blöden Grinsen auf! Ihr – Gideon, Caleb und Philip – ihr geht nach draußen und fragt euren Onkel, ob er heute eine Hilfe braucht. Vielleicht braucht er euch drüben im Haus. Und du, Eve, finde raus, ob er und Jonathan etwas zu essen mitnehmen wollen, oder ob sie zum Essen zurückkommen. Susannah und Naomi, ihr räumt den Tisch ab, und du, Andrew, holst einen Eimer Wasser aus dem Brunnen und setzt ihn zum Kochen auf, damit wir das Geschirr waschen können.«
Nachdem die Kinder gegangen waren, um zu tun, was sie ihnen aufgetragen hatte, stieg Rachel die Leiter zu dem schmalen, langen Heuboden hoch, der ihren Eltern als Schlafzimmer gedient hatte und jetzt ihr Sanktum in dem Blockhaus war, das nur zwei Zimmer hatte. Nachdem sie den Vorhang, der ihr ein bißchen Privatsphäre gab, zugezogen hatte, ging sie gebückt zum Bett, um nicht an der Decke anzustoßen. Sie setzte sich auf die Federmatratze mit der fröhlichen Patchworkdecke gegenüber dem Toilettentisch, der einmal ihrer Mutter gehört hatte und jetzt zwischen die Dachsparren eingeklemmt war. Der Hocker fehlte – er hatte die Reise ihrer Eltern von den Appalachen in Pennsylvania nach Kansas nicht überstanden –, und der Spiegel war fast blind und hatte einen Sprung; trotzdem war der Toilettentisch eines von Rachels wertvollsten Besitztümern.
Über die Platte hatte sie ein hübsches Spitzentuch gelegt, das sie mühsam bestickt hatte, und darauf hatte sie ihre wenigen Habseligkeiten ausgebreitet: den Silberspiegel ihrer Mutter, dazu die passende Bürste und den Kamm, ihr eigenes kleines Schmuckkästchen aus Silber (in dem sie ihre Haarnadeln, ein paar schöne Schildpattkämme, ein graviertes Goldmedaillon mit einem Bild ihrer Eltern und je einer Locke von ihnen sowie den schlichten, goldenen Ehering ihrer Mutter aufbewahrte), ein grünes Flakon mit Fliederessenz, die Rachel selbst destilliert hatte, ein sorgsam gehütetes Stück feine, gekaufte Seife, die sie nur zu speziellen Gelegenheiten benutzte, und die drei Lieblingsbücher ihres Vaters – die Bibel, Platos Republik und ein Wörterbuch.
Rachel musterte nachdenklich ihr Gesicht im Spiegel, mit einer Hand am Mund. Unbewußt fuhr sie die Konturen ihres Mundes nach, wie Slade es mit seiner Zunge getan hatte. Irgendwie hatte sie erwartet, seine heftigen Küsse hätten sie verändert, aber dem war nicht so. Nur ihr Haar war das reinste Rattennest, und ihr Mund war ungewöhnlich rot und verschwollen. Wie konnte das nur sein? fragte sie sich. Aber sie hatte sich doch verändert und sie spürte, daß sie nie wieder die Frau sein würde, die sie vor den Küssen Slade Mavericks gewesen war. Selbst jetzt noch hatte sie tief in ihrem Inneren die seltsamsten Gefühle, eine unbeschreibliche Sehnsucht, einen Schmerz, den sie nie zuvor empfunden hatte.
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