Wildes Blut
Er war ein sehr liebes Kind, das jetzt, da es regelmäßig gefüttert und gewickelt wurde, nie weinte oder schrie. Aber insgeheim machte Rachel sich Sorgen um ihn, denn er war kein molliges, gesundes Baby. Seine Arme und Beine waren wie Stöckchen und sein Körper so dünn, daß man fast die Rippen zählen konnte, und er nahm auch nicht so schnell zu wie andere Säuglinge. Manchmal hatte er Schwierigkeiten, seine Milch zu schlucken und sie bei sich zu behalten. Deshalb fütterte sie ihn sehr langsam, was ihr aber gar nichts ausmachte. Sie genoß es, ihn in ihren Armen zu wiegen und mit ihm zu reden oder ihm etwas vorzusingen. Oft wünschte sie, er wäre ihr eigenes Kind, was er seit Indias Tod ja eigentlich auch war. Denn sie war mehr oder weniger die einzige Mutter, die er je gekannt hatte – oder wahrscheinlich je kennenlernen würde, der arme, kleine Racker.
Bei diesem Gedanken mußte Rachel ein bißchen weinen, denn er erinnerte sie an ihre eigene Mutter, die jetzt schon seit drei Jahren unter der Erde lag. Inzwischen war, trotz aller Versuche, die Erinnerung nicht einschlafen zu lassen, Victoria Wilders Gesicht nur noch ein schemenhafter Umriß für sie. Trotzdem konnte Rachel sich an viele andere Dinge so klar und deutlich erinnern, als hätte sie sie erst gestern gesehen und gefühlt – die Hände ihrer Mutter, insbesondere, wie sie beruhigend über ihre fiebrige Stirn strichen, ihr Geschick beim Kämmen ihrer langen blonden Haare, und wie sie aus abgelegten Kleidern Jungmädchenträume nähen konnten, die Hände, die schnell und hilfreich nach dem schweren Korb griffen oder graziös auf das Versteck eines Präriehundes oder das Nest einer Wiesenlerche zeigten. Rachel fehlten diese liebevollen von der Arbeit rauhen und roten Hände so sehr; sie waren immer dagewesen – bis zu jenem schrecklichen Sommer, in dem sie so schnell von ihr gegangen waren, zu bald und für immer.
Jetzt war auch India tot. Und nur ihre Kinder waren geblieben, und von diesen hatte das letzte einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen. Sie liebte sie zwar alle, aber sie wußte, daß sie, tief in ihrem Innersten, Toby am meisten liebte. Er war so winzig und so zerbrechlich, und seine dunkelblauen Augen schienen oft so traurig, fast so, als wüßte er, daß seine richtige Mutter tot war, und das brach Rachel fast das Herz. Jetzt schaute sie ihn an und sah, daß er eingeschlafen war. Sein Rosenmündchen stand offen, mit einem kleinen Rinnsal Milch in einem Winkel, und der Gummidaumen der Flasche ruhte an seiner Unterlippe. Sein Atem ging so leise, daß ihr manchmal das Herz stockte, und sie das Ohr an seine Brust legen mußte, um sich zu vergewissern, ob er überhaupt noch atmete. Aber jetzt sah sie, wie sich seine Brust dank seines zufrieden geschwollenen Bäuchleins auf und ab bewegte. Heute früh war es viel besser mit dem Füttern gegangen, dachte sie voller Hoffnung und verdrängte energisch ihre Ängste.
Lächelnd nahm sie vorsichtig die Flasche von seinem Mund und stellte sie auf den Boden. Dann erhob sie sich langsam, hielt jedoch inne, als er sich im Schlaf bewegte und seufzte. Nach einiger Zeit schlich sie auf Zehenspitzen zu der alten Kiste, die als Wiege diente. Bevor sie ihn hineinlegte, hielt sie ihn noch ein bißchen an sich gedrückt, mit dem Kopf an ihrer Brust.
Seltsamerweise regte sich jetzt wieder in ihr die Sehnsucht, die sie bei Slades Berührung empfunden hatte, nur anders diesmal, nicht so heftig und heiß, sondern sanft und warm. Rachel überlegte kurz, warum das wohl so war. Dann wurde ihr mit einemmal klar, daß die meisten Babies schließlich mit einem Kuß begonnen hatten, denn sie war auf einer Farm aufgewachsen und hatte oft genug beobachtet, wie Tiere sich paarten.
Zu ihrem Entsetzen schlich sich der Gedanke ein, daß ein Kind von Slade wie Toby aussehen würde, doch sie verdrängte diesen Gedanken ganz schnell. Sie hatte bereits ein Baby, selbst wenn es nicht wirklich ihr eigenes war, und sie hatte nicht vor, sich noch einmal im Heu zu wälzen – schon gar nicht mit Slade Maverick –, um noch eins zu kriegen.
Sie gab Toby einen zärtlichen Kuß auf die Stirn und sog seinen süßen Duft von Milch und Puder ein. Wie sie diesen frischen, sauberen Geruch liebte, er roch wie die Erde nach einem Frühlingsregen oder frischgewaschene Kleider, die in der Sommersonne trockneten, oder frisch gemähte Felder im Herbst oder der erste schwere Frost des Winters. An all das erinnerte Toby sie, und sie war froh,
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