Wildes Herz
tatsächlich nicht lange dauern, bis Paddy sie eingeholt hätte.
Brendan hatte ihre Antwort gar nicht abgewartet. Er strebte mit schnellen Schritten auf ein dichtes Gebüsch zu, das in einiger Entfernung neben einer niedrigen Mauer wucherte. Dabei sah er sich nicht einmal nach Éanna um – und das erfüllte sie nur noch mehr mit Wut. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein?
Die Stimmen kamen näher. Gleich würden Paddy und die anderen in Sichtweite sein. Und damit wäre es auch um Éanna geschehen.
Sie musste ihre Entscheidung treffen – und zwar jetzt. Mit ein paar Sätzen war sie hinter dem Gebüsch. Doch dahinter wartete niemand. Brendan war wie vom Erdboden verschluckt.
»Wo in Gottes Namen …?«, flüsterte sie. Aber da tauchte der Rotschopf mit den blitzenden Augen plötzlich zu ihren Füßen auf. In seinem Haar hingen ein paar Zweige und Blätter.
Ein Scalpeen! Fast hätte sie die mit Sträuchern und Erde abgedeckte Höhle übersehen, in der er Zuflucht gesucht hatte.
»Beeil dich«, drängte er, und nun zögerte Éanna nicht mehr länger. Mit einem Satz war sie bei ihm – keine Sekunde zu spät. Denn von den Hügeln her näherten sich nun raue Jungenstimmen, und noch während Brendan über ihr die Zweige zurechtzog, hörten sie Paddy so wütend schnauben, als stünde er direkt neben ihr.
»Ich sag euch, sie ist in diese Richtung gelaufen. Wir werden sie bald einholen«, versicherte einer der Bande.
»Brendan hält sie bestimmt schon fest«, kam es von dem mit der Ziegenstimme. »Hoffentlich macht er Hackfleisch aus ihr.«
Éanna sog die Luft ein. Brendan legte beruhigend die Hand auf ihren Arm und deutete mit einem heftigen Kopfschütteln an, dass sie von ihm nichts zu befürchten hätte.
»Nichts wie los, Leute!«, brüllte Paddy. »Dem Miststück werde ich persönlich eine Lektion erteilen. Heute noch.«
Lange, nachdem die Stimmen in der Ferne verstummt waren, saß Éanna neben ihrem Retter in dem dunklen Erdloch und lauschte dem Pochen ihres Herzens. Das Messer hielt sie noch immer krampfhaft umklammert.
Endlich rappelte sich Brendan mit schmerzverzerrtem Gesicht auf und kletterte aus dem Scalpeen. Éanna folgte ihm zögernd und blinzelte, als sie ans helle Tageslicht trat.
»Hast du Hunger?« Er stand breitbeinig vor dem Scalpeen und schaute in Richtung Landstraße.
Éanna verdrehte die Augen. »Sterben Iren tagtäglich wie die Eintagsfliegen?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage, deren Antwort genauso auf der Hand lag wie die zu seiner Frage. »Wie kannst du denn nur so etwas Blödsinniges fragen?«
»Also, dann lass uns gemeinsam was dagegen unternehmen!«, schlug er vor.
Sie sah ihn von der Seite an. »Warum tust du das?«, fragte sie zweifelnd. »Warum hilfst du mir?«
Er schüttelte lachend den Kopf. »Vielleicht, weil ich an die Macht des Schicksals glaube?«, sagte er leichthin. »Oder denkst du, es ist ein Zufall, dass wir uns wieder über den Weg gelaufen sind?«
Éanna wollte gerade zu einer spöttischen Erwiderung ansetzen, als sie sich auf die Lippen biss. Egal, was sie von ihm dachte. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte Paddy sie jetzt bereits in seinen Fingern.
»Verrätst du mir deinen Namen?«, fragte er schließlich und schulterte sein Bündel. »Meinen kennst du ja schon.« Er blinzelte ihr zu, aber es wirkte nicht anzüglich, sondern so, als meinte er es wirklich ernst.
Prüfend sah sie auf die Klinge in ihrer Hand, bevor sie entschlossen ihren Umhang zur Seite schlug und das Messer wegsteckte. »Ich heiße Éanna«, sagte sie und sah ihn an. »Éanna Sullivan.«
Er grinste. »Na, ohne deine Klinge vor der Nase geht es mir doch gleich bedeutend besser, Éanna Sullivan. Sich mit dir anzulegen, ist keinem zu raten. Mir ist lieber, du bist auf meiner Seite.«
»Warum sollte ich auf deiner Seite sein?«, fragte sie zurückhaltend. »Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten. Und genau das solltest du auch tun.«
Brendan Flynn sah sie prüfend an. Ein düsterer Schatten legte sich über sein Gesicht. »Schade«, sagte er, und es klang, als meinte er es ehrlich. »Aber wie du willst. Es ist deine Entscheidung.« Mit diesen Worten ließ er sie einfach stehen und lief in Richtung Straße.
Éanna schaute ihm sprachlos hinterher. »Warte«, rief sie, und Tränen der Wut traten ihr in die Augen. »Was meinst du damit, es ist meine Entscheidung? Etwa dass ich auf der Straße lebe und mich allein gegen gemeine Gauner wie Paddy und dich zu Wehr setzen muss? Ist es
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