Wildes Herz
mühelos aus. Gelegentlich wandte er den Kopf und beschnüffelte Tys Stiefel, als wollte er sagen: „Was, du bist noch immer da? Na, macht nichts. Du störst mich nicht.“
Ty antwortete immer gleich. Er lobte das Pferd und strich über dessen glatte Muskeln. Als Lucifer auf den festen, gleichmäßigen Zug am Hackamore reagierte und in die gewünschte Richtung einschwenkte, verdoppelte Ty sein Lob und die Liebkosungen. Dann ergänzte er die Zügelhilfe durch sanftes Fersenklopfen, und Lucifer lernte, dass er vorwärts gehen sollte. Wenn der Hackamore einen stetigen Druck nach hinten ausübte, hielt der Hengst an.
„Das war’s fürs Erste, mein Sohn“, sagte Ty und glitt vorsichtig vom Rücken des Mustangs. „Den Rest des Tages bekommst du frei.“
Lucifer schnaubte und trat zur Seite. Mehr geschah nicht, nachdem er von der Last auf seinem Rücken befreit war. Ty hob beide Hände und schlang das Führungsseil sicher um den schwarzen Hals des Hengstes. Das Pferd zuckte nicht einmal zusammen.
„Du bist ein Wundertier“, murmelte Ty.
Lucifer stieß mit dem Kopf an Tys Brust und begann sich zu reiben, um den Hackamore abzustreifen. Ty lachte leise und massierte das juckende Fell, das unter dem Lederriemen heiß und verschwitzt war.
„Entschuldige, mein Sohn. Ich muss das ganze Zaumzeug dranlassen. Dir tut das nicht weh, und ich erspare mir morgen große Mühe, wenn wir mit dem Unterricht weitermachen. Aber jetzt darfst du nach Herzenslust grasen, während ich mir ein ausgiebiges Entspannungsbad in der Wanne verdient habe. Lauf, mein Sohn. Geh rüber zu Zebra, und berichte ihr von den verrückten Menschen, die sie dir auf den Hals gehetzt hat.“
Wenige Minuten später blickte Janna von den Kräutern auf, die sie sortiert hatte. Lucifer hatte keinen Reiter mehr. Für einen Moment stockte ihr Herz. Dann legte sich der Schrecken. Sicher war Ty freiwillig abgestiegen, um sich und Lucifer eine Pause zu gönnen. Sie wandte sich wieder den Kräutern zu und prüfte, wie gut sie getrocknet waren. Dann schob sie einen Teil beiseite. Das war der Vorrat für die Reise. Von den raschelnden Blättern, Blüten und Stängeln stieg ein feiner, durchdringender Duft auf. Aus einem weiteren Teil würde sie Tinkturen, Salben und Cremes herstellen. Sie wusste, die Zeit reichte nicht, um alle gesammelten Heilkräuter und Samen zu verarbeiten, aber das spielte keine Rolle. Wenigstens waren ihre Hände in Bewegung. Solange sie eine Beschäftigung hatte, wanderten ihre Gedanken nicht zu Ty und wie es sich angefühlt hatte, ihn zu berühren; sie musste nicht an den Abschied von ihrem Tal denken ... und nicht an den Abschied von Ty, der folgen würde.
Einfach nicht darüber nachdenken, ermahnte sie sich inständig. Ich denke nicht daran, dass Mad Jack wahrscheinlich krank ist, auch nicht an Cascabel, der nur darauf wartet, mich umzubringen. Ich denke nur an diese Kräuter. Auf die Pläne, die Mad Jack, Ty oder diese grausamen abtrünnigen Indianer haben, kann ich keinen Einfluss nehmen. Aber ich kann Salben und Tinkturen herstellen. Ich lege einen Vorrat an Magenmedizin an, den lasse ich da. Und noch andere Heilmittel. In meinem Tal kann ich alles tun, was ich will. Solange ich noch hier bin.
Nur Ty verführen, das kann ich nicht.
Bei dem Gedanken, ihn zu verführen, rutschten ihr die Kräuter aus der Hand und fielen zusammen mit den Samenkapseln zu Boden. Janna unterdrückte eine Bemerkung und hob alles wieder auf. Als der Gedanke, mit Ty zu schlafen, ein zweites Mal auftauchte, geschah das
Gleiche. Mit ihren zitternden Fingern konnte sie nicht Weiterarbeiten.
„Dann hole ich wenigstens Schwefelwasser aus der oberen Quelle“, murmelte sie vor sich hin. „Das schaffen meine unbeholfenen Hände noch.“
Sie nahm einen kleinen Metallbehälter und machte sich auf den Weg zur Wanne. In den vergangenen Wochen war der Pfad oft benutzt worden und ziemlich ausgetreten. Sie und Ty lagen gern im warmen Wasser und beobachteten, wie die Wolken über ihren Köpfen hinwegzogen und sich ständig veränderten. Jeder badete für sich allein. Bei dem Gedanken, was geschehen war, als sie die Wanne ein einziges Mal gemeinsam benutzt hatten, fiel Janna beinahe das Gefäß aus der Hand. Sie hätte viel darum gegeben, Ty noch einmal berühren zu dürfen wie damals, so zart, so innig und so wild. Nur ein einziges Mal.
Nur noch ein Mal, bevor sie das Tal verließen und sich nie wieder sahen.
Sie betrat die engste Stelle des Tales. In der Stille bei
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