Wildes Herz
wenn er das Nadelöhr durchquerte, wuchs seine Bewunderung für Janna. Sie hatte einen Durchgang gefunden, der bei den Indianern seit Hunderten von Jahren in Vergessenheit geraten war.
Vielleicht aber war das Tal nicht völlig aus der Erinnerung der Indianer verschwunden, sondern wurde als Geisterort des „vorher gekommenen Volkes“ gemieden, den normale Sterbliche besser nicht betraten. Im Dämmerlicht, das in dem engen Schacht herrschte, war es leicht, sich böse Geister vorzustellen, die jedem auflauerten, der sich leichtsinnig in den schwarzen Felsrachen wagte.
Die engste Stelle lag nicht hinter dem Tor, durch das man aus dem geheimen Tal in die offene Ebene gelangte, sondern kam nach dem ersten Drittel des Weges. Die Wände in der Verengung waren aus schwarzem Fels. Das feinporige Gestein brach sich zu langen Säulen, die aneinander gereiht dastanden. Am Boden hatte das Wasser den Felsen geschliffen, bis er glänzte. Darüber lag eine feine Schlammschicht, die schlüpfrig wie eine Eisfläche war. Im Gegensatz zu Mad Jack hatte Janna nie herausgefunden, wie sie diesen Abschnitt, ohne Spuren zu hinterlassen, durchqueren konnte. Sie benutzte den Felsendurchgang nur kurz vor oder nach einem Regenschauer, wenn das Wasser alle Abdrücke wegschwemmte.
Das war ein weiterer Grund für Tys Bewunderung. Wenige Menschen, die dieses Land kannten, hätten den Mut, den Felsspalt zu betreten, wenn sich über dem Hochplateau dicke Regenwolken zusammenzogen und überall an den Flanken sprühende Wasserfälle herabrauschten. Noch seltener besaß ein Mensch die Gabe, das Gelände und das Wetter richtig einzuschätzen, um lebendig wieder aus diesem Schacht herauszukommen. Ty fragte sich, wie oft Janna die schlammige Wasserflut beobachtet und wie sie ausgerechnet hatte, wann der beste Augenblick war, um ohne Spuren durch das Nadelöhr zu gelangen und nicht dabei zu ertrinken.
Misstrauisch blickte er an den unregelmäßigen Wänden nach
oben. Bis zu einer Höhe von einhundertundfünfzig Metern lag angespülter Schotter auf Simsen und in Nischen. Der Gedanke, welche Gefahren sie auf sich genommen hatte, um ihn in das verborgene Tal zu bringen, trieb ihm den Schweiß aus den Poren. An die schwarzen Wolken und den prasselnden Regen erinnerte er sich ... an mehr nicht. Aber er wusste, sie hatte viel gewagt, damit seine Wunden an einem geschützteren Ort heilen konnten. Tatsächlich war das Risiko verdammt groß gewesen, und zwar seit dem Augenblick, als sie begonnen hatte, seine Spuren vor Cascabel zu verwischen. Wenn der abtrünnige Indianer je herausbekam, wie sein Gefangener wirklich entkommen war, hatte Janna ihr Leben verwirkt.
Schlitternd bewegte sich Ty über den glitschigen Boden. Er ließ die Stelle hinter sich, wo die schwarzen Felswände bedrohlich zusammenrückten. Jetzt wurde der Gang wieder breiter. Ty schritt rasch voran und hinterließ nur wenige Spuren. Außer seinen eigenen Fußabdrücken fand er in dem steil abfallenden Gang keine Anzeichen für Eindringlinge. Die Helligkeit nahm zu, ein Zeichen, dass der Ausgang nah war. Ty hielt sich im tiefsten Schatten der Felsen und eilte weiter, bis er an einen Geröllhaufen kam. Über diese natürliche Mauer, die Folge von Steinschlag, konnte er einen Blick ins Freie werfen. Am Rand des Hochplateaus lagen überall Steine. Sie bildeten ein Schotterfeld, das sich in sanftem Gefälle vom Fuß des Felsmassivs bis in die Ebene erstreckte.
Für mehrere Minuten verharrte Ty vollkommen ruhig und suchte in der Landschaft nach Bewegungen. Er sah nichts, nur zerfetzte Wolkenschatten, die über die Erde jagten. Sollte dort draußen jemand sein, war derjenige besser versteckt als Ty.
Nach einigen Minuten ließ er den Eingang zur Schlucht hinter sich und kehrte zu Janna zurück. Sie wartete an genau der Stelle, wo er sie zurückgelassen hatte. Das Geheimnis um die Felsschlucht und das dahinter liegende Tal musste bewahrt bleiben.
„Alles in Ordnung“, sagte er und beantwortete die stumme Frage in ihren Augen. „Seit dem letzten Regenschauer ist kein Mensch und kein Tier durch das Nadelöhr gekommen.“
Sie hatte nichts anderes erwartet, konnte aber ihre Erleichterung nicht verbergen. Ohne das geheime Tal hatte sie kein Versteck, keinen ungestörten Platz, an dem sie die kalten Winter in diesem rauen Land verbringen konnte.
Er sah ihren erleichterten Gesichtsausdruck und erriet den
Grund. Mit Mühe unterdrückte er den Drang, sie zu beruhigen. Noch einen Winter würde sie sich
Weitere Kostenlose Bücher