Wildes Herz
mit gleichmäßigen Bewegungen schob er die Augenbinde an Lucifers Kopf zur Seite, bis der Hengst wieder sehen konnte. Für einen Moment verharrte das Pferd reglos, dann legte es die Ohren flach. Ein Ruck ging durch den Körper, und Lucifer machte Anstalten, sich aufzurichten. Sofort drückte Ty das Maul an den Boden und hielt es dort fest. Er redete beruhigend auf den Hengst ein und liebkoste die angespannten Halsmuskeln, während Lucifer weiter versuchte, auf die Beine zu kommen und zu fliehen.
Ty hätte nicht sagen können, wie lange er brauchte, um Lucifers Angst zu besiegen und die Vernunft in ihm anzusprechen. Er erinnerte sich nur, dass er wie Lucifer in Schweiß gebadet war, als der Hengst sich endlich durch den Klang seiner Stimme und die unablässigen, zarten Berührungen in der streckenweise heftigen Auseinandersetzung beruhigen ließ.
„Wie, zum Teufel, konnte sie dich lange genug festhalten, um dir die Augenbinde anzulegen?“ fragte sich Ty laut, während er und Lucifer sich erschöpft anblinzelten. „Oder warst du einfach an ihren Geruch gewöhnt?“
Der Hengst sah ihn mit seinen tiefdunklen Augen an. Der wache, intelligente Blick traf Ty beinahe körperlich. Es lag keine Boshaftigkeit darin, auch keine aggressive Wildheit, die nur darauf zu warten schien, beim Gegner eine Schwäche zu entdecken und loszuschlagen. Ty sah ein Tier mit hellwachen Sinnen, die durch das Leben in freier Wildbahn geschärft und geübt waren.
„Ich möchte wissen, wer deine Mutter war und wer dein Vater. Ganz bestimmt waren sie keine Ackergäule. In deinen Adem fließt eine kräftige Portion Berberblut, vielleicht hast du auch etwas von einem Tennessee Walking Horse in dir. Für dich hätte mein Vater alle seine Zuchthengste hergegeben, und er wäre überzeugt gewesen, ein gutes Geschäft gemacht zu haben, denn du bist noch einmal das Doppelte wert. Du bist ein Prachthengst, Lucifer. Und jetzt gehörst du mir.“
Die Ohren des Pferdes zuckten. Es folgte mit den Augen jeder
Bewegung, die Ty machte.
„Gut, zur Hälfte gehörst du mir“, sagte er. „Ein gewisses starrköpfiges Mädchen besitzt das Recht auf einen Teil von dir, ob sie das wahrhaben möchte oder nicht. Aber sei unbesorgt, mein Sohn. Wenn ich dich nur zähmen kann um den Preis deiner Lebendigkeit, lasse ich dich frei. Das habe ich versprochen. Um ehrlich zu sein, hoffe ich aber, das wird nicht nötig sein. Bei meinem Bruder Logan habe ich ein paar wunderbare Stuten zurückgelassen. Ich möchte dich gern mitnehmen nach Wyoming, und du solltest lange genug bei mir bleiben, um wenigstens eine Fohlengeneration mit meinen Stuten zu zeugen.“ Während er sprach, verlagerte er langsam sein Gewicht, bis er Lucifers Maul mit wenig Krafteinsatz am Boden halten konnte.
„Bist du bereit? Dann versuchen wir das Aufstehen noch einmal. Sachte, mein Sohn. Sachte. Ganz ruhig und langsam. Wenn du in dieser engen Schlucht heftig aufspringst, verletzt du uns beide.“
Lucifer hatte kaum begriffen, dass sein Kopf frei war, als er seitwärts rollte und die Beine unter seinen Rumpf zog. Er lernte rasch. Der Mann, der in der Lage war, sein Maul niederzudrücken, konnte ihm auch beim Auf stehen helfen, indem er ein paar Mal entschlossen am Führstrick zog. Im Nu stand der Hengst wieder aufrecht, ohne Augenbinde und am ganzen Körper zitternd; die ungewohnte Nähe zu einem Menschen war noch befremdlich.
„Ich hatte Recht. Du bist nicht nur ein gut aussehender Junge, sondern auch klug. Zu schade, dass du wild bist. Du wärst ein wunderbarer Kamerad geworden. Nach diesen vielen Jahren bezweifle ich, ob du einen Reiter dulden wirst. Aber das ist in Ordnung, mein Sohn.“ Ty trat näher an den Hengst und rollte mit langsamen Bewegungen den ledernen Führstrick ein, bis er dicht neben Lucifers Kopf stand. „Ich muss dich nicht zureiten, um zu beweisen, was für ein großartiger Kerl ich bin. Es gibt tausend andere Pferde, die ich reiten kann, aber du bist der Hengst, der meine Stuten decken soll.“
Die Worte bedeuteten dem Hengst nichts. Tys ruhige Stimme und seine Vertrauen erweckenden, sanften Hände überzeugten ihn.
Als der Hengst sich entspannte, atmete Ty leise und gedehnt aus. „Du machst uns beiden die Sache leicht, mein Junge. Ich bin verdammt froh, dass die Schussverletzung und dein kilometerweiter Galopp dir den Mumm genommen haben. Hätte ich dich ausgeruht und unverletzt eingefangen, wärst du nicht annähernd so zahm gewesen, habe ich Recht? Ich nehme an,
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