Wildes Herz
Wolken erschienen war, versuchte sie, Lucifers Zustand einzuschätzen.
„Steht zu viel Wasser im Nadelöhr, so dass wir nicht durchkommen?“ fragte Ty.
„Nein.“
Er wartete. Janna äußerte sich nicht weiter zu diesem Thema, auch zu keinem anderen. Zumindest nicht ihm gegenüber. Gegen ein Gespräch mit dem Hengst schien sie nichts zu haben.
„Ja, du armer tapferer Kerl. Du hast heute wirklich Schlimmes aushalten müssen“, sagte sie mit sanfter Stimme und hob die Hand, um Lucifer zu streicheln.
Ty öffnete den Mund. Er wollte sie warnen, dass der Hengst gereizt wie der Teufel sein würde. Die Worte blieben ihm im Hals stecken, denn Lucifer wieherte leise und streckte sein Maul ihren Händen entgegen. Sie strich dem Hengst über die Schnauze und tastete mit ihren schlanken Fingern unter dem dichten Haar der Vorderlocke nach der knochigen Erhebung zwischen den Ohren. Sie schob die Finger unter den Hackamore und rieb das ungewohnte Gefühl weg, das die Lederriemen auf seinem Fell verursachten.
Mit einem Geräusch, als würde er stöhnen, atmete Lucifer tief aus. Er schob die Stirn gegen Jannas Brust und überließ sich ganz der Liebkosung. Ty war schockiert, dann rührte ihn der Anblick. Seine Kehle wurde eng, und er kämpfte mit Gefühlen, für die er keine Worte hatte. Zu sehen, mit welcher Sanftheit der Hengst sich Janna hingab, erinnerte ihn an die Legende vom Einhorn und der Jungfrau. Während Ty den Hengst und das Mädchen betrachtete, fragte er sich, ob tatsächlich ihre Unschuld für das zahme Verhalten des Pferdes verantwortlich war oder ob nicht doch in Janna ein uralter weiblicher Zauber wohnte, der Lucifer anzog.
Das arme Einhorn hatte keine Wahl, sagte Ty stumm zu sich selbst. Es war von Geburt an dazu bestimmt, seinen Kopf in den Schoß der Jungfrau zu legen und von ihren sanften Händen gezähmt zu werden.
Die Erkenntnis machte Ty rastlos. Obwohl Janna nichts getan hatte, um ihn zu halten, fühlte er sich von etwas Unsichtbarem umschlossen, als säße er in einem Netz aus seidenen Fäden. Jede Liebkosung, jedes Lächeln, jedes Wort, das sie mit ihm verband, war ein Faden; aus einem Faden wurden Tausende, miteinander versponnen und verwoben zu einem unzerreißbaren Geflecht, dem er nicht mehr entkam.
„Fertig, mein Junge?“ fragte Janna ruhig. „Der Weg wird schwierig werden mit deinem schlimmen Bein, aber ich verspreche dir, mehr verlange ich nicht von dir, bis du wieder ganz gesund bist.“
Sie wandte sich um und ging zu Zebra. Lucifer folgte ihr und drängte dabei Ty sanft vorwärts, indem er selbst am Führstrick zerrte, den der große Mann noch immer straff hielt. Das umgekehrte Rollenverhältnis weckte in Ty ein Gefühl grimmiger Belustigung. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn er dem Hengst das Seil um den Hals hängte, sich umdrehte und wegging.
Ich sage dir, was passiert, dachte Ty. Du verbringst die Nacht allein, hungrig und frierend, während Lucifer in Futter schwelgt und von Jannas Händen zärtlich liebkost wird. Also, wer, glaubst du, ist klüger? Du oder der Hengst?
Mit einem unterdrückten Fluch schritt er über den feuchten steinigen Grund hinter Lucifer her, auf den unsichtbaren Spalt zwischen den Felsen zu. Diese Seite des Hochplateaus bestand aus nacktem Gestein, das sich in verschiedenfarbigen Schichten und Verwerfungen zu schroffen Klippen und Türmen erhob, unterbrochen von langen Felsrücken aus schwarzer Lava. Die Flanke fiel jäh ab, war aber zehn Mal niedriger als die stark verwitterte Wand, die Janna und Ty im Osten auf ihrem Weg in die Ebene hatten herunterklettern müssen.
Dennoch hatte Janna auf dieser Seite keinen Pfad entdeckt, der nach oben führte. Wenn sie zurück auf die Hochfläche wollte, musste sie sehr viel weiter südlich gehen, immer entlang der zerklüfteten Randregion mit ihren vielen Anhöhen, Felsenspitzen und Schluchten, bis sie tief im Süden die sanft ansteigende Felsrampe erreichte. Mit einem guten Pferd hätte dieser Weg einen vollen Tag in Anspruch genommen. Der östliche Pfad mochte steil sein, aber er ließ sich in wenigen Stunden zu Fuß bewältigen.
Beide Pferde blieben plötzlich vor Ty stehen. Zebra schnaubte unruhig, schreckte aber nicht zurück, als Janna in das Wasser watete, das aus dem Felsengang schoss. Willig folgte Zebra ihr in den knöcheltiefen Sturzbach. Die Stute kannte das Nadelöhr. Sie hatte es bei Hochwasser schon früher durchquert und keine Verletzungen erlitten. Lucifer zögerte, senkte den Kopf
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