Wildes Lied der Liebe
die Augen sehen konnte. Dennoch war sie sich seiner Gegenwart bewusst, schien ihn in jeder Faser ihres Wesens spüren zu können. »Können wir es riskieren, sie in die Hütte zu bringen?«
Caney blickte sie ernst an. »Ich glaube schon, doch wahrscheinlich wird ihr Stamm sie bald abholen. Indianer lieben ihre Kinder sehr.«
Christy presste die Lippen zusammen und nickte. Sie hatte Jenny nur für kurze Zeit in ihrer Obhut gehabt, nicht länger als drei Tage, dennoch fühlte sie sich innig mit dem Kind verbunden. Sie wünschte sich, sie behalten und aufziehen zu können, wusste jedoch, dass es unmöglich war.
Caney blickte zu Zachary auf. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie auf mein Mädchen aufgepasst haben«, erklärte sie mit einem Kopfnicken in Christys Richtung. »Sie haben sie wohlbehalten nach Hause gebracht.«
»Ma'am«, erwiderte Zachary und tippte sich an den Hut. Das war alles, er richtete kein einziges Wort an Christy, sondern beugte sich nur vor, um die hängenden Zügel der Stute zu ergreifen, und ritt davon. Er befand sich bereits außer Sichtweite, als Christy einfiel, dass sie sich nicht bei ihm bedankt hatte.
»Komm ins Haus«, drängte Caney leise, nahm Christys Arm, hielt jedoch gleichzeitig das Baby sicher an ihrer Brust. »Du sollst mir erzählen, wie du das Kind gesund gepflegt hast. Außerdem schätze ich, dass du ein Bad, eine warme Mahlzeit und ein weiches Bett gebrauchen kannst.«
Christy vermochte nur zu nicken, und selbst als sie schon auf die Hütte zuging, blickte sie noch immer zum Pfad nach Primrose Creek hinüber, auf dem Zachary davongeritten war.
Caney umsorgte Christy, als wäre diese selbst ein kleines Kind, und schickte Megan und Skye über den Fluss, um Bridgets Badewanne auszuleihen. Als Christy gewaschen und in ein warmes Flanellnachthemd gekleidet war, aß sie einen Teller voll Eintopf und erzählte die Geschichte von Jennys Genesung zwischen den einzelnen Bissen. Danach kletterte sie in ihr Heubett und fiel in einen tiefen und glücklicherweise traumlosen Schlaf.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, fütterte Caney gerade das Baby und sang der Kleinen ein Lied vor. Jenny lachte sie an, als wollte sie gleich mit einstimmen. Christys Herz schien sich zusammenzukrampfen, doch sie lächelte und war bemüht, ihrer Stimme einen fröhlichen Klang zu verleihen:
»Guten Morgen«, sagte sie.
Caney lächelte ein wenig traurig. »Guten Morgen, Miss«, antwortete sie. »Das süße Ding hier ist schon wieder ganz munter.« Sie nahm Jennys Zehe zwischen zwei Finger, und die Kleine lachte glucksend. »Nicht wahr, mein Mädchen?«
Selbstverständlich war Christy froh über Jennys Genesung, die beinahe ein Wunder war, da Scharlach so häufig tödlich endete. Dennoch hieß es, von Jenny Abschied zu nehmen, und Christy fürchtete diesen Augenblick. Schon zu oft hatte sie in ihrem Leben Abschied nehmen müssen - von Menschen, die sie liebte, und Orten, an denen sie glücklich war.
Nachdem Caney ihr eine Schüssel Maisbrei mit Melasse gereicht hatte, brachte sie die Sprache endlich auf die Ereignisse, über die die beiden Frauen bislang geschwiegen hatten. »Wirst du mir nun erzählen, was wirklich auf der R eise geschehen ist, oder soll ich raten?«
Christy senkte den Blick, blinzelte und sah Caney dann wieder an. Die Freundin wollte wissen, ob sich zwischen ihr und Zachary eine R omanze entsponnen hatte, doch sie tat, als hätte sie Caney missverstanden. »Nun, ich erzählte es dir bereits. Die Missionare - das Ehepaar Arron - waren tot, als wir die Mission erreichten. Zachary - Marshal Shaw - begrub sie, und wir verbrachten die Nacht in ihrer Hütte. Am nächsten Morgen brachen wir wieder auf.«
Caneys Lippen bewegten sich in einem stummen Gebet für die Arrons, doch der Ausdruck in ihren dunklen Augen war unbarmherzig. »Also ist nichts geschehen? Zwischen dir und dem Marshal ?«
Christy spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Natürlich nicht!«, antwortete sie vielleicht eine Spur zu heftig.
»Es muss nicht unbedingt etwas Körperliches sein, das zwischen einem Mann und einer Frau geschieht. Es gibt andere Dinge, und ich vermute, du weißt davon, obwohl du behütet aufgewachsen bist. Dinge, die zwei Menschen für immer miteinander verbinden.«
Christy bewegte sich unruhig und verlor den Appetit auf ihr Frühstück. Selbst durch das Nachthemd und die Decke hindurch schienen die Heuhalme sie unangenehm zu piksen. »Ich habe meine Meinung nicht geändert und will
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