Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken
trabte er zielstrebig los, sodass Oscar kaum mithalten konnte. Ich konnte sehen, wie Oscar etwas zu ihm sagte, aber die Geräusche waren mit einem Mal verstummt, als würde ich vor einem Fernseher sitzen, bei dem der Ton ausgefallen war. Oscar versuchte, Luffe anzuhalten. Er zerrte an der Leine, stemmte die Fersen in den Boden, aber Luffe lief einfach weiter, und dann rutschte Oscar die Leine aus der Hand.
»Luffe! Luffe!« Ein kaum hörbares, blechernes Rufen. Der Ton war also doch nicht ganz weg, nur sehr schlecht.
Luffe steigerte sein Tempo zum Hundegalopp. Seine Bewegungen wirkten seltsam steif, ganz anders als die unbekümmerte Tollpatschigkeit eines Labradors. Schnee wirbelte um ihn herum, verdichtete sich zu einem grauweißen Raureif, und plötzlich, mitten zwischen zwei Galoppsprüngen, war er nicht mehr zu sehen.
Oscar blieb wie angewurzelt stehen. Er starrte in den Schneenebel, der seinen Hund verschluckt hatte. Er machte ein paar Schritte darauf zu, dann blieb er wieder stehen.
Geh da nicht rein , versuchte ich, ihm zuzurufen, aber ich war ja nicht da, ich war ja nicht im Traum dabei, ich war nur diejenige, die träumte.
Wroff. Wroff.
Aus dem Nebel drang ein kaum hörbares Bellen, und Oscar rannte los. Nach wenigen Schritten verschwand er in den schimmernd verschneiten wilden Wegen, und es gab nichts, was ich hätte tun können, um ihn aufzuhalten.
»Luffe!«, rief er. Dann war er weg.
Es war fast ganz dunkel in meinem Zimmer, als ich aufwachte oder wieder zu mir kam, oder was auch immer das war, was ich tat. Die selbstleuchtenden Zeiger der Micky-Maus-Uhr zeigten beide nach unten auf die Sechs, der eine nur ein kleines Stück vor dem anderen.
Ich hörte, dass Mama telefonierte. Vielleicht hatte mich das geweckt.
»… nein, sie ist hier«, sagte sie. »Seit sie aus der Schule gekommen ist. Sie fühlt sich nicht so gut.«
Eine Pause entstand, während sie zuhörte, was der andere sagte. »Ich frage sie«, sagte sie. »Ich ruf dich zurück.«
Kurz darauf klopfte Mama leise an meine Zimmertür und schob sie auf.
»Clara-Maus«, sagte sie. »Oscars Mutter hat mich gefragt, ob du weißt, wo er ist?«
10 VERSCHWUNDEN
Ich arbeite einfach zu viel«, sagte Oscars Mutter mit einer müden, dünnen Stimme, die ganz anders klang als sonst. »Er ist viel zu oft alleine. Wieso war ich nicht zu Hause? Was denkst du, wo er sein könnte?«
Sie saß in unserer Küche, eine Hand ununterbrochen um ihr Handy geklammert. Sie hatte immer noch ihre Büroklamotten an, einen schicken dunklen Blazer mit Rock, Nylonstrümpfe und hochhackige Schuhe. Die blonden Haare hatte sie aus dem Gesicht gekämmt und am Hinterkopf mit einer silbernen Spange festgesteckt.
»Meinst du nicht, er ist einfach mit einem Freund nach Hause gegangen?«, fragte Mama.
»Schon, aber … der Hund …«
Oscar war mit Luffe Gassi gegangen, wie immer, wenn er aus der Schule kam. Er hatte die alte Frau Perstoft und ihren Pudel am Eingang des Stjerneparks gegrüßt. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen. Und ich saß da, mit dem bleiernen Gefühl, dass das, was ich geträumt hatte, gar kein Traum gewesen war. Ich glaubte nicht daran, dass Oscar bei einem Freund war. Ich war mir sicher, dass er Luffe in die Nebel der wilden Wege gefolgt war. Ich hatte schon sechsmal versucht, Tante Isa anzurufen, aber wie gewöhnlich war das sinnlos.
»Mama …«
»Ja, Mäuschen?«
»Darf ich rüber in den Park und ihn suchen?«
»Nein, mein Schatz. Nicht jetzt. Es ist doch stockdunkel.«
Oscars Mutter stieß ein leises, halb ersticktes Schluchzen aus. »Ich arbeite ja auch viel zu viel«, sagte sie wieder, als wäre das der Grund. Mama streichelte ihr über den Rücken und murmelte irgendetwas Tröstliches.
Sie riefen die Polizei an. Ich hörte zu, wie Oscars Mutter erzählte, erklärte und Oscars Aussehen beschrieb. Als sie sagen sollte, was er anhatte, musste sie mich fragen, weil sie nicht zu Hause gewesen war, als er sich morgens umgezogen hatte. Und so kam es, dass sie sagte, sie arbeite zu viel und alles sei ihre Schuld.
Der diensthabende Beamte schickte einen Kollegen, der den Bericht aufnahm, und versprach, nach Oscar zu suchen, aber ich war mir sicher, dass die Polizei uns hier nicht weiterhelfen konnte.
Ich ging in mein Zimmer, schaltete meinen kleinen Fernseher ein und drehte die Lautstärke hoch. Nicht, weil ich die Serie sehen wollte, die zufällig gerade lief, sondern weil ich den Krach brauchte. Und einen Zettel. Ich musste Mama
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