Wildnis
unterließ es jedoch, um nicht wieder als Musterknabe belächelt zu werden.
Die Bewegung an der kalten Luft weckte ihn rasch. Sie gingen still die Hügel hinauf. Die Nadelbäume standen dicht um die moosigen Felsen. Jan blieb stehen und tastete. Das Moos war hier kein saftiger Teppich, sondern ein hartes, bleiches Netz, das den Steinen ein verwittertes, knochiges Aussehen gab.
Ob Sarah unter einer solchen Decke ruhte? Wieso hatte Michael sich auf dieses Tal eingelassen? Das musste ihm unangenehm gewesen sein, auch wenn er jetzt so tat, als ob die aufregende Geschichte ein weiterer Pluspunkt wäre. Es musste ihm viel an den Mädchen liegen. Allerdings nicht an Laura, die war ihm zu vulgär und ohnehin leicht zu haben – zumindest für jemanden Cooles wie Michael. Und bei Jenny hatte Jan seit langem den Eindruck, dass sie für Michael schwärmte. Vielleicht wäre daraus sogar schon etwas geworden, wenn Michael nicht bis vor Kurzem in einer Beziehung gesteckt hätte. Nein, für Jenny brauchte Michael diese Abgeschiedenheit auch nicht. Nur für Anna. Damit sie seinem Werben ausgeliefert wäre: keine Ablenkung, keine Fremden, kein Hinterausgang.
Das Licht wurde nach und nach dünner, drang weniger tief unter die Bäume, ließ die Ritzen zwischen den Steinen aus, löste sich vom Boden und glitt zurück in den Himmel. Zugleich wurde der Hügel steiler und sie mussten ab und an die Hände zur Hilfe nehmen, um sich an Ästen und Stämmen voran zu ziehen.
Schließlich blieben ihnen nur Grasbüschel, um sich festzuhalten. „Lass uns umkehren!“, rief Jan zu Anna, die etliche Meter vor ihm stieg.
„Nur noch bis zu dem Absatz“, kam die Antwort von oben.
Jans Standbein rutschte auf dem Schotter. „Wenn wir das Haus vor der Dunkelheit erreichen wollen, sollten wir jetzt zurück.“
„Die Dunkelheit tut uns nichts. Im schlimmsten Fall müssen wir das Haus ein bisschen suchen.“
„Du hast Michael wirklich nicht zugehört.“
„Du fürchtest dich vor dem Mörder?“
„Nein. Ich habe nur keinen Ehrgeiz, mit einem verknacksten Bein hier draußen bis morgen früh rumzuliegen.“
Anna stieg weiter, und Jan ihr nach. Wie kühl es wurde! Er hätte eine Jacke mitnehmen sollen.
Als sie auf dem Absatz niederkauerten, waren die Schatten von den schwarzen, konturlosen Bergen ins Tal gekrochen. Nur auf dem See hatte sich ein Abglanz des Tages gehalten. Jan fühlte sich bewegt – und ungeduldig. „Du hast deinen Willen gehabt, jetzt lass uns gehen.“
„Du darfst dich von deiner Angst nie besiegen lassen“, sagte Anna, ohne sich ihm zuzuwenden. „Wenn dir etwas Furcht einflößt, musst du es umarmen.“
Warum unterstellte sie ihm ständig, dass er sich fürchtete? Oder sprach sie eigentlich zu sich selbst? Ehe er sich versah, begann er: „Du hast ... Hast du viel Angst gehabt in deinem Leben?“
„Du wolltest mich noch etwas Anderes fragen und wartest schon die ganze Zeit auf den richtigen Moment.“
„Dich etwas fragen?“
„Warum ich mitgekommen bin.“
Jetzt schaute sie ihn an. „Wahrscheinlich hat dir Michael erzählt, dass er mich überredet hat. Zweimal hat er bei mir angerufen und einmal ist er sogar vorbeigekommen mit einem Bildband von Alaska. Soll er sich einbilden, was er will.“
„Nein, er hat mir nichts davon erzählt. Insgesamt hat er mir fast nichts ... Wir sind natürlich beste Freunde, aber im Moment ...“ Das ganze Unglück ihrer fragilen Freundschaft, die mit dem Ende der Schulzeit zerbrechen musste, stürzte auf Jan ein.
Doch Anna hatte sich wieder hinaus zum dunkelnden Tal gedreht, den Kopf leicht zurückgelehnt, eine Locke in der Stirn. Der Anblick bannte seine Aufmerksamkeit. Wie die Schwarz-Weiß Aufnahme einer Femme fatale aus den zwanziger Jahren. Sie brauchte weder Kleid noch Feder, selbst in ihren Outdoor-Klamotten wirkte sie, als habe sie ein Fotograf stundenlang in der Hoffnung zurechtdrapiert, einen Abglanz ihrer Anziehungskraft einzufangen. Sie schien nie einen Gedanken an ihre Wirkung zu verschwenden, und schuf doch immer wieder solch unwiderstehliche Momente, in denen man Angst hatte, sie berühren zu müssen.
„Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten. Wir sind uns sehr nah. Ein bisschen wie beste Freundinnen. Ich will nach Paris. Sie wünscht sich von ganzem Herzen, dass ich als Tänzerin Erfolg habe. Trotzdem kann sie nicht loslassen. Deswegen sind die Fetzen geflogen und ich habe mir gedacht: Wenn ich kurzerhand bei euch aufspringe, wird sie sich daran
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