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Wildnis

Wildnis

Titel: Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Zahrnt
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gewöhnen, ohne mich auszukommen. Das war eine ziemlich spontane Idee, aber nachdem ich sie meiner Mutter ins Gesicht geschrien hatte, wollte ich nicht mehr klein beigeben.“
    Jan war enttäuscht. Natürlich hatte sie sich nicht seinetwegen umentschieden, aber es war eine andere Sache, sich das anhören zu müssen.
    „Außer dir habe ich niemandem in unserer alten Stufe von all dem erzählt“, fügte Anna hinzu.
    Wärme stieg in Jan empor und wanderte bis in seine klammen Finger. Weit unten schien ein Licht auf. Das musste ihre Hütte sein.
    „Ich habe mich fürs Studium in Berlin immatrikuliert“, sagte er. „Ich bin heilfroh, von zu Hause wegzukommen, bloß ... meiner Mutter geht es nicht immer so gut ... sie ist depressiv, aber sie gibt das nicht zu und lässt sich nicht helfen und deswegen habe ich das Gefühl, sie zu verraten, wenn ich jetzt wegziehe. Und mein Vater steht ihr nicht bei ... Er geht zu anderen Frauen.“
    „Es ist schwer, seine Eltern zu verlassen.“ Anna seufzte. „Meine Mutter sprüht vor Unternehmungslust und Lebensfreude. Trotzdem dreht sie halb durch.“
    „Ihr steht euch sehr nahe, hast du gesagt.“
    „Ja. Mein Vater ist gestorben, als ... Wir sind vor zwei Jahren umgezogen, um das hinter uns zu lassen.“
    „Es ist schon in Ordnung. Wir brauchen nicht –“
    „Doch! Wir werden in diesen vier Wochen viel Zeit miteinander verbringen, und ich will mich nicht ständig einmauern. Mein Vater hatte einen epileptischen Anfall. Daran hat er seit seiner Jugend gelitten. An jenem Morgen stürzte er mit dem Fahrrad und wurde von einem Auto überfahren.“
    „Wann war das?“
    „Ich war sechs.“
    „Sechs? Entschuldige, ich frage nur so, weil ich durcheinander bin. Ihr seid doch erst vor zwei Jahren umgezogen.“
    „Ich hatte auch epileptische Anfälle.“
    „Was?“
    „Eine idiopathische, generalisierte Grand-Mal-Epilepsie, wenn du es genau wissen willst. Den ersten Anfall hatte ich am Morgen nach meinem elften Geburtstag. Meine Mutter hatte ein Fest veranstaltet, mit einem Clown, der geigen konnte, und ich war ungewöhnlich lange aufgeblieben. Ab da hatte ich häufig Anfälle, immer in den ersten Stunden nach dem Aufwachen, vor allem, wenn ich angespannt war, und das war ich natürlich oft in jener Zeit. Etliche Male hat es mich in der Schule erwischt, das war am schlimmsten.“
    Jan hätte gerne ihre Hand gestreichelt.
    „Man kann sich danach nie daran erinnern. Man kommt zu sich, findet sich nicht zurecht. Alle Anderen stehen um einen herum, man hat ein heilloses Chaos angerichtet, Spucke und Essensreste kleben einem im Gesicht und man spürt, man spürt, dass man sich eingenässt hat.“
    Es war schrecklich, das hilflos mitzuhören. „Konnten die Ärzte nichts machen?“
    „Oh, die Ärzte haben sich meiner angenommen. Sie haben EEGs erstellt, im Wach- und im Schlafzustand. Sie haben verschiedene Medikamente ausprobiert, unterschiedliche Dosierungen und Kombinationen, und ständig haben sie die Ergebnisse mit den Nebenwirkungen verglichen: Müdigkeit, Übelkeit, Kopfweh, Konzentrationsstörungen ...“
    In einer fließenden Bewegung richtete sie sich auf. „Aber ich habe gesiegt. Mit dreizehn hatte ich meinen letzten Anfall. Mit fünfzehneinhalb haben wir die Medikamente abgesetzt. Die Ärzte waren dagegen, das war mir egal. Sie hatten mich nur gequält, ich habe die Krankheit selbst überwunden. Der gefürchtete Rückfall blieb aus. Als ich sechszehn wurde, sind wir umgezogen und haben ein neues Leben begonnen.“
    Ein Zittern durchfuhr Jan.
    „Mir wird auch kalt“, sagte sie. „Lass uns zurückgehen.“

2. Tag
    Wie fünf Wilde stürmten sie den Hügel hinunter, überholten und schubsten sich. Greg riss Blätter von den Ästen und warf sie in die Luft, die Nachfolgenden schlugen danach wie nach Seifenblasen. Aus dem Wald rannten sie die Wiese hinunter, Matsch spritzte unter ihren Schuhen hervor. Atemlos erreichten sie das kieselige Ufer.
    „Ich war noch nie so dreckig!“ Jenny wischte sich einen Schlammfleck aus dem strahlenden Gesicht.
    „Wir können gleich mit den Klamotten in den See!“, rief Laura.
    „Hey, ich hab dich eingesaut, damit du dich ausziehst“, beschwerte sich Greg, „nicht, damit du arabisch baden gehst!“
    „Ist der Anblick unserer nackten Haare für den Pascha nicht erregend genug?“
    „Ich sehe dich lieber nackt ohne Haare.“
    Jenny errötete, obwohl der Satz nicht ihr gegolten hatte, doch Laura lachte nur. „Es ist bald Mittag und du

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