Wildnis
mit dem See verbunden war. Sie stiegen über umgestürzte Stämme, vorbei an spitz zugenagten Baumstümpfen, um die sich die Holzsplitter häuften. In der Mitte der Bucht erhob sich ein grasbewachsener Biberbau. Weiter draußen im See hüpfte ein Fisch, die feinen Wellenkränze ließen die Spiegelungen der Quellwolken erzittern. Jan fühlte sich unbeschwert.
Auf dem Rückweg stießen sie auf Himbeersträucher. Jeder sammelte sich eine Handvoll kleiner, süßer Beeren, dann füllten sie sich damit den Mund und überboten sich mit Tönen des Genusses.
Jan brachte Anna zu ihrer Lichtung und schlenderte weiter. Er hatte es nicht eilig, zum Haus zurückzukehren. Die fröhlichen Stunden klangen in ihm nach – und er wusste nicht recht, wie er Jenny entgegentreten sollte.
Einige Minuten stand er regungslos an einen Baumstamm gelehnt. Zweige knackten. „Ein Bär!“, fuhr es ihm durch den Kopf, doch es war nur ein leises Rascheln, wohl irgendein kleiner Nager.
Nein! Jan stockte der Atem: ein Mensch!
Ein Mann mit braunem T-Shirt und grüngefleckter Hose schlich einige Meter vor ihm vorbei. Über der Schulter trug er ein Gewehr.
Jans Herz raste. Da war der Mann, vor dem sie Mr. Wilken gewarnt hatte!
Ruhig! Er musste ruhig nachdenken, sonst war er verloren! Sollte er um Hilfe schreien? Davonrennen? Sich nicht rühren und hoffen, dass er unentdeckt bliebe?
Der Mann fuhr herum. Er musterte Jan mit schmalen Augen und suchte den Wald hinter ihm ab. Sein Alter war schwer zu schätzen. Die Haut ledrig, doch faltenfrei, die schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz eng zusammengebunden. Er mochte erst um die Dreißig sein.
„Guten Tag“, sagte der Mann und trat auf Jan zu.
Jan hob abwehrend die Hände. ‚Tu mir nichts!‘, raste es durch seinen Kopf, ‚töte mich nicht!‘, doch er brachte keinen Ton heraus.
„Nein? Kein guter Tag?“ Der Mann blickte spöttisch. „In der Tat, der Tag, an dem ich mich von einem Jungen überraschen lasse, kann so gut nicht sein. Das Stadtleben macht dekadent.“
Was hatte der Mann ihm da gesagt? Etwas über das Stadtleben? Jan versuchte verzweifelt, Herr seiner wirbelnden Gedanken zu werden.
„Gewöhnlich treiben sich hier keine Touristen herum.“
„Die, die Re-Reffords“, stammelte Jan.
„Seitdem ist dieses Tal noch einsamer.“
Jan nickte eifrig.
„Wie lange seid ihr hier?“
„Vier Wochen.“
„Das ist eine lange Zeit in der Wildnis. Kennt ihr euch aus? Von wo kommt ihr?“
Endlich begriff Jan, dass der Andere ein Indianer sein musste. Deswegen die seltsame Haut und die markanten Stirn- und Wangenknochen. Geistesabwesend antwortete er: „Aus Deutschland. Unsere Abi-Reise.“
„Die meisten jungen Leute feiern in Cancún oder Acapulco.“
„Wir sind lieber in der Natur.“
„Das verstehe ich. Aber kennt ihr den Unterschied zwischen einem Bären mit Jungen in einem Naturfilm und einem Bären in Alaska, wenn ihr zwischen ihn und seinen Nachwuchs geratet? Wenn ihr Hilfe braucht, ich bin gerne zu Diensten.“ Das ganze Gesicht des Mannes weitete sich zu einem Lächeln.
„Wohnst du in diesem Tal?“
In das Lächeln mischte sich Wehmut. „Das sollte ich, aber nein, ich jage hier lediglich während einiger Sommerwochen. Dann ziehe ich nach und nach zurück zur Küste, wo ich vom Herbst bis zum Frühjahr lebe. Das hier ist meine nördlichste Station.“
Der Andere war ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit Vorlieben und Gewohnheiten und mit der ärgerlichen Art vieler Erwachsener, junge Menschen für unselbstständig zu halten. „Wie lange bleibst du noch?“, fragte Jan ermutigt.
„Je nach Lust und Laune, zwei oder drei Wochen. Ich bin gestern angekommen.“
Das erregte Jans Misstrauen. „Wir haben kein Flugzeug gesehen.“
„Ich gehe zu Fuß. Allerdings kenne ich die Wege, ich kann klettern und ich kann mir alles beschaffen, was ich zum Überleben brauche. Die meisten Anderen würden in den Bergen nicht weit kommen.“
„Du bist allein, wir sind zu sechst und können uns helfen.“
„Sechs Jungs?“
„Drei Jungs und drei Mädchen.“
„Die Mädchen würden euch nur zur Last fallen.“
Jan fühlte sich in der Ehre seiner Gruppe angegriffen. „Du wärst überrascht, wozu wir in der Lage sind.“
„Das kann ich mir schon vorstellen.“ Ein Grinsen wanderte bis zu den hohen Wangenknochen des Mannes. „Aber falls ihr etwas braucht ...“
„Danke, das ist sehr nett, uns geht es ausgezeichnet.“
„Na dann. In ein paar Tagen schaue ich noch mal
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