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Wildnis

Wildnis

Titel: Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Zahrnt
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lauter und schmerzlicher wurden die Schreie. Doch wie nah waren sie?
    Dann blieben die Schreie aus.
    Sie standen hilflos in der Dunkelheit und warteten. Nur die Geräusche des Waldes, nichts Auffälliges.
    Noch vorsichtiger schlichen sie weiter. Sie suchten eine Stunde, die Jan wie eine Ewigkeit erlebte. Schließlich kauerten sie sich Rücken an Rücken in eine Kuhle, um sich auszuruhen. Jan fielen die Augen zu, die Bäume griffen nach ihm und begruben ihn unter ihren Wurzeln, dann war er sich wieder sicher, wach zu sein, und schon schob sich der nächste Stamm auf ihn zu.

8. Tag
    Kaum erhellte sich der Himmel, setzten sie ihre hastige Suche fort. Doch erst als die Rinden der Bäume und die einzelnen Halme der Grasbüschel zu erkennen waren, stießen sie auf Laura. Sie schien einen dicken Stamm zu umarmen. Um ihren Körper führten Seile. Ihre Kapuze war über das abgewandte Gesicht gezogen.
    Jenny hatte sie entdeckt, einige Schritte auf sie zugemacht, innegehalten und begonnen, über den Lauf des Gewehres hinweg die Umgebung abzusuchen. Michael überholte sie und blieb ebenfalls abrupt stehen, und nun sah Jan: In den Seilen hing eine Puppe aus Ästen und Gras, bekleidet mit Lauras Jacke, Pulli und Hose. Der Anblick verschwamm vor Verzweiflung und Müdigkeit.
    Sie fanden keine Spuren, immerhin auch kein Blut. Was sollten sie tun? Anna schrie sinnlos nach Laura, Jenny fuhr sie an, sie solle den Mund halten. Sie versuchten, sich zu beraten, waren jedoch zu erschöpft und niedergeschlagen, um einen Plan zu entwickeln.
    Ein Geräusch, Jan fuhr herum. Der Indianer näherte sich. Er trug die gleiche geflickte grün-braune Kleidung, in der Jan ihn zuvor angetroffen hatte. „Was macht ihr hier?“
    „Was willst du von uns?“, fragte Jan zurück.
    „Ich wollte noch einmal bei euch vorbeischauen und fand das Haus von abgebrannten Feuern umgeben, die Fenster vernagelt und der Balkon gesichert, als wäre das ein Fort. Ich habe die Umgebung abgesucht und eure Schreie gehört. Jetzt bist du dran.“
    Michael berührte Jan am Arm und flüsterte: „Wir sollten ihm nicht zu viel erzählen.“
    Jan erwiderte leise: „Wenn er der Mörder ist, weiß er sowieso, was geschehen ist. Wenn nicht, sollte er es erfahren.“ Er schilderte dem Indianer knapp ihre Lage.
    „Hast du ein Funkgerät?“, fragte Michael.
    „Nein, ein Satellitentelefon. Aber es funktioniert ebenfalls nicht. Am Tag, nachdem ich von meinem ersten Besuch bei euch zurückgekommen bin, ist mir das aufgefallen. Seltsame Zufälle, nicht wahr?“
    „Wirst du uns helfen?“
    „Habe ich eine Wahl? Ich bin der Einzige, der dazu in der Lage ist.“
    Der Indianer krabbelte den Boden um den Baum herum ab, band die Puppe frei, zog sie aus, zerlegte sie und beschaute ausgiebig Seil, Kleidung, Geäst und Gras. Endlich richtete er sich wieder auf. „Am Boden waren zu viele Spuren von euch. Aber so wie die Puppe angebracht ist, würde ich auf einen großgewachsenen Mann tippen. Die Seile waren mit sauberen Knoten fest zusammengebunden, obwohl eine Schlaufe genügt hätte. Der Mann ist gewohnt, Knoten zu binden, die halten müssen.“
    Er deutete auf die Kleider. „Die Puppe ist auf die Schnelle mit geschickten Händen gebastelt worden. Dennoch hat er sich die Zeit genommen, ihr auch die Unterwäsche anzuziehen. Das ist eigenartig. Entweder ist er ein Fetischist oder er versprach sich davon, euch noch mehr zu verängstigten.“
    „Was –“, setzte Michael an.
    „Gleich“, unterbrach ihn der Indianer. „Er hat ihr die Kleidung ausgezogen, ohne sie zu zerreißen. Nirgendwo ist Blut. Vielleicht hat er sie schon bei der Leiche in Bewusstlosigkeit versetzt und sie bis hier getragen. Auch das spräche dafür, dass er groß und stark ist. Die Alternative wäre, dass er ihr befohlen hat, hierher zu gehen und sich zu entkleiden. Aber bei der Dunkelheit gestern dürfte es schwer gewesen sein, jemanden vor sich her zu dirigieren.“
    Mit geschlossenen Augen sprach er weiter: „Der Mann trägt die Bewusstlose weg vom Haus. Wahrscheinlich hat er eine gedimmte Lampe benutzt, sobald er sich ein gutes Stück entfernt hatte. Trotzdem wird er an die zwanzig Minuten benötigt haben. Von dem Moment an, als ihr vor der Leiche geflohen seid: Wie lange habt ihr ungefähr gebraucht, bis ihr auf hundert Meter im Umkreis der Puppe wart?“
    Sie konnten sich nicht einigen: zwischen einer halben und einer guten Stunde – falls sie nicht weiter ab von der Fundstelle gesucht und gerastet

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