Wildnis
gestoßen.
Endlich auf der Wiese sprintete er zur Hütte. Licht fiel ihm entgegen. Er stürmte die Treppe hinauf. Michael stand auf der Veranda und beleuchtete den Weg zum Haus. Neben ihm kauerte Jenny mit dem Gewehr im Anschlag.
Jan warf sich mit dem Rücken gegen die Wand. Gleich hinter ihm kam Anna. Michael schaltete die Taschenlampe aus und versuchte mit zitternden Händen, den Schlüssel ins Schloss zu bringen.
„Wo ist Laura?“, fragte Anna.
Michael knipste die Lampe wieder an. Laura war nicht zu sehen. Wie hatten sie sie in ihrer Panik vergessen können? Hatte sie versucht, trotz ihrer Rückenschmerzen zu rennen, und war gestürzt? Hatte sie das Bewusstsein verloren? So musste es sein, sonst würde sie schreien.
Ohne Licht schlichen sie zurück bis zu den Bäumen und lauschten.
Stille. Leise Geräusche, weiter weg. Stille.
Dicht beieinander drangen sie in den Wald und suchten den Boden ab. Sie gelangten zur Leiche des Mädchens, unter der die zurückgelassene Taschenlampe das Laub beleuchtete. Der schlanke Körper war in ein abgetragenes, weißes Kleid gehüllt, das aus einem Leintuch gefertigt sein mochte. In der Dunkelheit war ihr Gesicht kaum zu erkennen. Dennoch traute sich Jan nicht, sie anzuschauen.
Anna berührte ihre Finger. „Ganz steif“, flüsterte sie. „Sie ist nicht diese Nacht erhängt worden. Und schaut euch die Ärmel an! Wie fein die bestickt sind!“
Sie verharrten wieder regungslos. Von Laura war kein Laut zu hören.
Sie drehten um. Auf der Wiese begannen sie wieder zu rennen. Jenny nahm Michael den Schlüssel aus der Hand, schloss auf und verriegelte hinter ihnen die Tür. Sie hasteten auf den Balkon, vorbei am schlafenden Greg.
„Laura!“, brüllten sie im Chor – und warteten vergeblich auf ein Lebenszeichen.
„Mein Gott“, murmelte Jan und wiederholte es noch einige Male. Würde auch Laura eines Nachts an einem Baum hängen?
„Ruhe!“, zischte Jenny. Alle hielten den Atem an. „Nein, ich habe mich getäuscht.“
„War das die Refford-Tochter?“, fragte Jan, den der Anblick der Leiche nicht losließ.
„Sarah“, sagte Michael. „Ich habe ein Foto von ihr gesehen, das ein paar Monate vor ihrem Verschwinden aufgenommen worden ist ... Wie konnte der Mörder sie in der kurzen Zeit über unserer Taschenlampe aufhängen? Er muss mit der Leiche in der Nähe gewesen sein. Mit all dem Lärm, den wir gemacht haben, konnte er sich in Position bringen. Unterschätzt nicht die Zeit, die wir gebraucht haben, um den Baum rauszuschleifen. Wenn er alles parat hatte, konnte er sie problemlos über einen Ast hochziehen. Vielleicht hat er sich auch erst den passenden Ast gesucht und dann die Lampe umgestellt. Denkt an das viele Holz, auf das wir unerwartet gestoßen sind. Wahrscheinlich hat er uns in eine etwas andere Richtung gelockt.“ Michael hatte ohne Pause geredet. Nun legte er seine zitternde rechte in die linke Hand, als wolle er einen Makel verbergen. „Was will dieser Mensch? Ist er geisteskrank?“
„Er will uns verstören“, sagte Anna, „damit wir Fehler begehen. Er will uns lebendig!“
Alle lauschten ihren eigenen Ängsten, als ein schwacher Schrei hinüberdrang. „Ii-ee. Ii-ee. Ii-ee.“ Es kam von weit her.
„Sie schreit um Hilfe.“ Jennys Flüstern klang wie ein Wimmern.
„Ich bringe den Kerl um!“, rief Anna.
„Wir können nichts tun.“ Michael schlug gegen die Brüstung. „Nichts!“
„Willst du Laura verraten?“
„Aah, aauuh“ erscholl es aus dem Wald.
Jan schaute in die Richtung der Schreie, gen Osten.
„Wir dürfen uns hier nicht verschanzen!“, rief Anna.
Michael fuhr sie an: „Willst du durch den Wald hetzen, bis sich der Mörder den Nächsten schnappt?“
„Wir müssen ihr helfen!“
„Du hast eben selbst gesagt, dass wir uns nicht zu Fehlern verleiten – Halt!“, rief Michael.
Jan drehte sich um, doch Anna war bereits verschwunden. Er rannte ihr nach.
Sie wartete auf der Wiese, nahe der Veranda. „Du kommst mit?“
Jenny erschien mit dem Gewehr und gleich darauf Michael, eine Axt in der Hand. „Wir sollten einen Bogen schlagen“, flüsterte er. „Vielleicht sind sie zu zweit. Einer bringt Laura zum Schreien, der Andere liegt am Waldrand im Hinterhalt ... Was immer geschieht, was immer wir zu sehen bekommen, wir dürfen nicht wieder ausflippen.“
Sie schlichen sich in den Wald. Bei jedem Schrei wollten sie beschleunigen, bei jedem Knacken unter ihren Füßen noch langsamer gehen. Je näher sie kamen, desto
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