Wildnis
hatten.
„Und wie lange hat es gedauert, bis die Schreie eingesetzt haben?“
Fünf bis zehn Minuten, nachdem sie die Leiche entdeckt hatten, lautete ihre Schätzung.
„Wann haben sie aufgehört?“
Zwanzig bis dreißig Minuten später.
Ihre Angaben waren so unzuverlässig, dass Jan an ihrem Wert zweifelte. Doch der Indianer nickte und öffnete die Augen. „Die Schreie können nicht von Laura stammen.“
Jan fühlte sich grausam erleichtert.
„Er muss Sarah aufgenommen und einen Lautsprecher verwendet haben. Sonst hätte er eure Freundin dazu bringen müssen, bereits auf dem Weg zu schreien. Nehmen wir an, sie war so verängstigt, dass sie kooperieren wollte. Hätte sie das geschafft? Während sie blind durch den Wald stolperte? Das hätte sie psychisch überfordert, sie wäre zusammengebrochen. Nein, es ist plausibler anzunehmen, dass sie ohnmächtig war und er einen kleinen, leistungsfähigen Lautsprecher mit sich führte. Dafür spricht auch, dass die Schreie so lange fortgedauert haben. Er hätte bei Laura bleiben müssen – und das wäre zu riskant gewesen. Stattdessen hat er Laura ausgezogen, mit ihrer Kleidung die Puppe konstruiert und den Lautsprecher versteckt. Dann hat er sich mit eurer Freundin davongemacht.“
Es war unglaublich, wie der Indianer aus wenigen Indizien einen belastbaren Hergang ableitete. Zum ersten Mal seit Stunden sah Jan Hoffnung auf den Gesichtern der Anderen.
„Meinst du, das war der Einsiedler?“, fragte Michael. „So ein alter Typ mit knarriger Stimme.“
„Ich weiß, von wem du sprichst. Kräftig genug wäre der. Ist der immer noch da? Ich habe ihn letztes Jahr gesehen.“
„Wo wohnt er?“
„Keine Ahnung. Ich habe ihn beide Male weiter im Osten getroffen.“
„Kannst du die Spuren verfolgen?“
„Wenn er sie durch den nächtlichen Wald getragen hat, dürfte mir das gelingen. Es ist vor allem eine Frage der Geduld.“
„Schnell, los!“
„Halt.“ Er schaute Anna prüfend an. „Wie geht es dir?“
„Mir? Das ist doch egal, wir müssen Laura finden!“
„Und den Mörder überwältigen. Dafür müssen wir uns zielsicher bewegen. Du wirst dazu nicht mehr lange in der Lage sein.“
„Ich bin fit! Nur etwas müde, so wie alle.“
Der Indianer lächelte. „Du bist ein tapferes Mädchen und du willst es nicht zugeben. Aber mir ist nicht entgangen, wie du dir an die Schläfen gefasst hast.“
Jan sah sie besorgt an. „Hast du Kopfweh?“
Sie zuckte mit den Schultern. Er trat zu ihr, als könne sie jeden Moment umkippen. „Ich begleite dich zum Haus.“
„Ich kann Laura –“
„Viel Glück“, sagte Jan zu den Anderen, während er den Arm um Anna legte und hoffte, dass sie den Suchtrupp ziehen ließe.
Zu zweit machten sie sich auf den Rückweg. Die ersten Sonnenstrahlen warfen lange Schatten vor ihnen ins Gras. Wie eigenartig, keine Eile mehr zu haben!
Anna ging mit gesenktem Kopf. „Es ist furchtbar! Was Sarah durchgemacht haben muss und was Laura –“
„Lass uns nicht davon sprechen. Wir sollten versuchen, möglichst wenig an all das zu denken, was hier passiert ist.“ Er bückte sich unter einem funkelnden Spinnennetz durch. „Erzähl mir vom Ballett.“
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Was mochte sich in ihrem Kopf abspielen? Sie hatte schon nach der Gewitternacht davon gesprochen, dass sie bestraft werden müsse. Wie viel schwerer mussten ihre Schuldgefühle nun wiegen, da sie Laura die Verletzung zugefügt hatte, deretwegen sie dem Mörder nicht hatte entkommen können. Gewiss hatte Laura sie angegriffen, und vielleicht hätte der Mörder Laura ohnehin erwischt. Doch würde Anna sich auf solche mildernden Überlegungen einlassen?
Sie erreichten das Haus schon nach einer Viertelstunde. Jan wunderte sich, wie weit die Entfernungen während der Nacht gewirkt hatten. Greg lag in seinem Bett, brabbelte erregt vor sich hin und ignorierte ihre Gegenwart. Hatte er von der Katastrophe etwas mitgekommen? Jan versuchte, seinen Blick einzufangen, und für einen Moment schien ihm, dass Greg ihn ansah. Gleich darauf rollten Gregs Augen noch wilder als zuvor.
Sie holten sich ein Frühstück und schlossen sich in Annas Zimmer ein. Jan war zufrieden, dass sie ordentlich aß. Sie schafften es gerade noch, die Krümel aus dem Bett zu wischen und sich die Decke überzuziehen. Sein letzter Gedanke war, dass er sich um Greg kümmern würde, sobald er sich ausgeschlafen hatte.
Als Jan aufwachte, brauchte er eine Weile, um sich einzufinden.
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