Wildnis
wir umgedreht. Das Blut muss von den erlegten Tieren gekommen sein, die der Mörder in seine Höhle getragen oder geschleift hat. Einmal mussten wir durch Wasser waten. Kurz darauf flehte eine Stimme vor uns aus der Dunkelheit um Gnade. Wir machten unsere Taschenlampen aus, falls das eine Falle des Mörders war, und tasteten uns wortlos voran. Es war Laura. Sie hielt uns für ihre Entführer und bettelte in einem fort, sie in Ruhe zu lassen. Es dauerte eine Weile, bis wir die Holzstäbe ihres Käfigs berührten. Das hat sie erschreckt und sie fing an zu kreischen und ich musste die Taschenlampe anmachen, damit sie begreift, wer ich bin. Wir standen in einer schmalen, hohen Halle, die überraschend wohnlich eingerichtet war, mit Bett und Tisch und Stühlen und Schränken. Logann nahm ein Tuch vom Tisch, schaute es an und reichte es mir. Es war mit den Gesichtern von drei Mädchen bestickt. Eine davon war Sarah.“ Die letzten Worte hatten wie ein Schluchzen geklungen.
„Was hat Laura gesagt?“, drängte Anna.
Jenny schwieg. Jan fragte sich schon, ob sie vor Erschöpfung eingeschlafen sei, als ihre leise Stimme wieder erklang. „Logann sagte, dass er einen Raum gesehen hatte, kurz bevor wir wegen Lauras Geschrei die Taschenlampen ausgemacht hatten. Den wollte er untersuchen. Kaum war er weg, hat mir Laura zugeflüstert, dass Logann bei ihr war, davor, da waren ihre Augen verbunden, aber sie war sich sicher, seine Stimme ... Und dass nebenan noch ein größerer Käfig stand, in dem war sie auch gewesen mit einem anderen Mann, der noch brutaler war als Logann und Logann herumbefahl ... Hatte der Einsiedler nicht eine extrem raue Stimme? Hast du das nicht erzählt?“
„Ja, unangenehm rau“, sagte Jan.
„So hat Laura den anderen Mann beschrieben. In dem Moment rief mich Logann, ich sollte zu ihm kommen. Ich habe instinktiv meine Taschenlampe ausgeknipst und bin tiefer in die Höhle zurückgewichen. Nach einigen Metern verengte sie sich zu einem Kriechgang. Ich habe knapp hindurchgepasst, einmal steckte ich kurz fest. Logann konnte mir unmöglich nachkommen. Laura hat wieder angefangen zu kreischen. Ich bin weitergerobbt.“
Etwas stürzte auf ihr Gebüsch. Orangefarbene Augen guckten sie an, Schwingen schlugen, die Zweige wackelten. Stille kehrte wieder ein. Michael flüsterte: „Ein Uhu.“
Jenny atmete hörbar aus. „Nicht ausrasten“, flüsterte sie, wohl zu sich selbst. „Also, ich bin weitergerobbt und eine Röhre einige Meter hinuntergeklettert und einem unterirdischen Bach gefolgt. Der ist in einer anderen Schlucht in etlichen Metern Höhe zu Tage getreten. Irgendwie habe ich mich auch da hinuntergehangelt und bin zu euch gerannt. Zum Glück habe ich den Weg gefunden, ohne anhalten zu müssen. Ich habe mir gedacht, dass ich etwa zehn Minuten Vorsprung habe, wenn Logann durch die Höhle zurückgelaufen ist, so wie wir gekommen sind. Oder mehr, falls er Zeit damit verloren hat, mich im Raum zu suchen, ohne seine Taschenlampe anzumachen. Immerhin hatte auch ich ein Gewehr.“
„Warum hast du ihn nicht erschossen?“, fragte Anna dazwischen.
„Wo warst du?“, fauchte Jenny. „Du lagst im Haus – ich war in der Höhle! Ich hatte Laura um Gnade winseln gehört und ich wusste verdammt genau, dass ich nicht in einem Käfig enden wollte.“
„Pst, ruhig“, zischte Michael.
Doch Jenny ließ sich nicht beruhigen. „Erinner dich, was du mit Greg gemacht hast, um deine Haut zu retten. Was hätte dir Greg schon getan? Der Käfig, das ist hundertmal schlimmer. Wärst du auf gut Glück zu Logann gelaufen? Was, wenn er mich rücklings niedergeschlagen hätte? Ich hatte viel gewagt, um Laura zu befreien. Aber in diesem Moment wollte ich nur noch fliehen, raus aus dieser furchtbaren Höhle!“
„Ich kann dich verstehen“, sagte Jan.
„Du warst tapfer, Jenny“, stimmte Michael zu. „Wir können uns alle nur ansatzweise vorstellen, was du erlebt hast.“
Anna atmete schneller. „Wenn sie kommen, erschießt mich, erschlagt mich, aber lasst mich nicht in ihre Hände fallen.“
Eine kurze Stille, dann wieder Anna: „Was hat Laura gesagt? Was haben sie mit ihr gemacht?“
Jenny schlief bereits. Oder wollte sie nicht antworten?
„Von sechs Uhr morgens bis elf Uhr abends ununterbrochen in Bewegung. Woher hat sie nur die Kraft dazu genommen?“, bewunderte sie Michael.
„Wie geht es morgen weiter?“, fragte Anna.
Keiner wusste eine Antwort.
„Was ist eigentlich mit uns geschehen?“, fragte
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