Wildnis
erschossen habe. Du kümmerst dich einen Dreck um die Anderen, es sei denn, du willst etwas für jemanden tun. Ich glaube, darum habe ich dich immer beneidet. Das ist Würde für mich: das tun, und nur das tun, was man wirklich will, und dazu stehen. Jetzt hältst du das nicht durch. Jetzt knickst du ein. Aber ich weiß, was ich will, und niemand wird mich davon abbringen! Ich will leben! Ich bleibe mit dem Gewehr im Busch.“
Niemand fand darauf ein Wort zu sagen.
Was verstörte ihn so an Jennys Ausbruch, fragte sich Jan? Sie hatte recht und zum Glück äußerte sie sich energisch genug, um Anna zurückzuhalten. Er machte sich selbst Sorgen, dass ihr Schuldgefühl Anna zu einem Selbstopfer treiben könnte. Nein, das Beunruhigende war nicht, was sie zu Anna gesagt hatte, sondern dieser letzte Satz: „Ich bleibe mit dem Gewehr im Busch.“ Ein Machtanspruch, den sie nicht durchdacht hatte – und zugleich eine Warnung, wie entschieden sie sich ab jetzt durchsetzen würde.
Lauras Rufe entfernten sich.
„Wahrscheinlich ist Laura noch immer in ihrem Käfig und die Mörder versuchen wieder, uns mit ihrem Lautsprecher zum Narren zu halten“, sagte Michael. „In der Nacht können sie uns nicht gefunden haben, sie müssen uns also bereits bei Tag gefolgt sein. Warum haben sie Jan und mich nicht längst erschossen?“
„Weil sie nicht riskieren wollen, dass Jenny und ich uns umbringen“, antwortete Anna. „Wir sind eure Lebensversicherung.“
„Mit begrenzter Gültigkeit“, ergänzte Jenny. „Wissen sie, dass wir vier Wochen bleiben wollten? So oder so müssen sie davon ausgehen, dass wir nach einiger Zeit gesucht werden. Bis dahin müssen sie über die Berge sein. Wenn noch mal jemand in diesem Tal verschwindet, wird man es so gründlich durchkämmen, dass auch ihre Höhle nicht im Verborgenen bleibt.“
„Außerdem werden sie sich Zeit nehmen wollen ...“, flüsterte Anna. „Für Jenny und mich, falls sie uns erwischen. Über die Berge können sie uns nicht zwingen.“
„Aber in ein Flugzeug, falls sie einen Helfer außerhalb des Tals haben. Nehmen wir an, dass sie uns ein oder zwei Tage umschleichen. Begehen wir einen Fehler, schlagen sie zu. Sonst warten sie auf eine günstige Schussposition, um Jan und Michael zu erledigen.“
„Wir müssen ihnen eine Falle stellen.“ Selbst geflüstert jagten Annas unerbittliche Worte Jan einen Schauder über den Rücken. Oder lag es an der Kälte von unten? Er dachte daran, was Greg in Annas Fängen widerfahren war.
10. Tag
Die Baumwipfel standen schwarz gegen das Morgenrot. Jan war, als wären ihm die Muskeln zwischen den Schulterblättern zu schmerzenden Eisklumpen gefroren. Mit steifen Gliedern packten sie ihre Decken zusammen, verließen den Schutz des Gebüschs und überquerten die Lichtung im Gänsemarsch, damit der Mörder nicht übersehen konnte, dass Anna zurückgeblieben war.
Bedrohlich öffnete der Wald seine schattigen Schlünde. Die Bäume schienen zwischen den Nebelschwaden umherzuirren. Jan zählte: 25 Schritte. 50 Schritte. 75. Bei 100 kehrten sie zur Lichtung zurück und schlichen sich im Schatten der Bäume zu einer Gruppe dichter Schösslinge, hinter denen sie niederkauerten. Michael bog einen Ast nach unten. „Ich kann sie nicht sehen“
„Ich auch nicht“, flüsterte Jenny.
War es möglich, dass die Mörder so schnell zugeschlagen hatten? Dass sie Anna keine Zeit gelassen hatten, einen Schrei auszustoßen? Entfernten sie sich bereits von ihnen, diesmal mit Anna statt Laura auf dem Rücken?
„Wir dürfen nicht warten!“, drängte Jan.
„Sei ruhig!“, zischte Jenny.
„Es war ihre Idee und ihr Entschluss.“ Michael ließ den Ast langsam zurückgleiten und legte Jan die Hand auf den Arm. „Der Mörder kann sie nicht überrascht haben.“
„Aber wenn er mit einem Schalldämpfer –?“
„Sieh es endlich ein! Sie hätten sie die ganze Zeit erschießen können, warum sollten sie es ausgerechnet jetzt tun, da sie ihnen ausgeliefert ist?“
Plötzlich wusste Jan, was geschehen war. „Sie haben sie mit einem Betäubungsgewehr –“
„Hör auf, dich verrückt zu machen! Wie könnten sie damit in einen Busch schießen?“ Michael klang unsicher und fügte hinzu: „Woher sollen sie das Betäubungsgewehr nehmen?“
Sie warteten eine Ewigkeit. Dann noch eine.
„Etwas hat sich im Busch bewegt“, flüsterte Jenny.
„Ich habe nichts gesehen“, sagte Michael.
Es war heller geworden. Wie lange mochten sie Anna schon
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