Wildnis
an den vielfarbigen, singenden Flammen gefreut. Nun war er es, der weinte.
Als er sich in seinem Horror erschöpfte, fiel im jäh ein, dass er seine Pflicht vernachlässigt hatte. Er setzte sich zurück ans Fenster, hielt es jedoch nicht aus, untätig zu warten, und bat Anna, den Ausguck zu übernehmen. Er musste etwas tun, irgendetwas Nützliches, er hatte so lange geschlafen und herumgelegen, und nun war Jenny da draußen unterwegs ... Er nahm die Landkarte aus dem Jungenzimmer, ging zu Michael auf den Balkon und breitete sie am Boden aus. Das Gebiet rund um die Hütte, das sie in den letzten Tagen erkundet hatten, lag im Schatten seines Körpers, der östliche Teil des Tals glänzte in der Mittagssonne. Er studierte die Route, die sie zur nächsten Straße bringen würde. Vier bis fünf Tage bräuchten sie, falls sie überhaupt über die Berge kämen. Doch erst musste Logann mit Jenny und Laura zurückkehren.
Dieser Indianer ... Konnten sie ihm wirklich vertrauen, fragte sich Jan? Er war aufgetaucht, als sie übermüdet und verzweifelt bei der Puppe gestanden waren, und hatte ihnen Hoffnung gegeben mit seiner selbstlosen Bereitschaft, ihnen beizustehen, und seiner erstaunlichen Fähigkeit, Spuren zu lesen und Abläufe zu rekonstruieren. Unwiderstehlich hatte er sich ihnen zur Seite gestellt. War das ein Zufall oder könnte –
„Woran denkst du?“, fragte ihn Michael.
„An Logann.“
„Ich auch.“
„Wie konnten wir Jenny allein mit ihm ziehen lassen?“ Jan hörte den Vorwurf in seiner Stimme. Er selbst war gerade aus seinem Drogenrausch erwacht, als die beiden das Haus verlassen hatten, und an der Entscheidung nicht beteiligt gewesen. „Es gab sicher gute Gründe“, fügte er rasch hinzu.
„Wir haben gestern stundenlang zu dritt gesucht. Das schweißt zusammen.“
„Ich verstehe. Wie ist die Suche eigentlich gelaufen?“
„Wir sind den Spuren gefolgt. Der tiefe Eindruck auf dem weichen Untergrund zeigte eindeutig, dass der Mann Laura getragen hatte. Nach etwa einer Stunde bergan wurden die Abdrücke schwächer, dafür kamen kleinere hinzu. Die Spuren ließen sich ab da leichter verfolgen. Mehr Äste waren geknickt und mehr Steine umgeworfen. Wir gelangten hinauf ins östliche Seitental, wo sich die Abdrücke im Grasland verloren. Jenny und ich sind schier umgekippt vor Müdigkeit und Hunger. Wir wollten keine Zeit verschenken, aber es ging einfach nicht mehr. Deswegen haben wir Logann vorgeschlagen, dass er alleine weitersuchen soll. Er wollte uns nicht ohne seinen Schutz den Rückweg antreten lassen. Wir mussten gemeinsam umkehren, um uns zu stärken und auszuschlafen. Zum Glück! Ein paar Minuten später und Anna wäre verbrannt. Und danach: Anna halb wahnsinnig vor Angst, du abgedreht im Pilzland, Greg erschossen, Jenny teilnahmslos – was hätte ich ohne Logann getan?“
„Wir brauchten ihn“, bestätigte Jan.
„Ja ... aber jetzt wirkt es immer leichtsinniger, je länger die beiden ausbleiben.“
Nervös blickten sie in den makellos blauen Himmel und über die grüngeschwungenen Wälder und versuchten, nicht auf die Vögel zu achten, die immer wieder in der Nähe aufflogen. Jan vermutete, dass die Anderen Gregs Leiche unweit von Sarah deponiert hatten. Er fragte lieber nicht.
„Jetzt würde ich Jenny nicht mehr gehen lassen“, sagte Michael. „Aber jetzt ist es zu spät.“
„Wir mussten Laura helfen, aber uns trennen ...“
„Vor allem nicht von einem der Mädchen.“
Jan dachte an Jennys filigrane Formen, an die lustvollen Reisen seiner Augen und Hände. Sie war so zart, so zerbrechlich.
Nach einer Weile fragte Michael: „Habt ihr eigentlich ... Ich weiß auch nicht, wieso ich daran denke. Habt ihr miteinander geschlafen?“
„Nein.“
„Wir hätten sie vor Greg bewahren sollen. Auch wenn sie sich selbst dafür entschieden hat, wir haben den Druck mit aufgebaut, die ganze Stimmung.“
Jan dachte an den ersten Abend, wie er dafür gestimmt hatte, dass Jenny sich ausziehen musste. Sie schwiegen wieder.
„Jenny kommt!“, schrie Anna aus ihrem Zimmer.
Jan stürzte hinunter und öffnet ihr. Jenny taumelte herein, ihr Brustkorb hob und senkte sich in schnellen Zügen.
„Wir müssen weg“, keuchte sie.
„Was ist los? Du siehst –“
„Keine Zeit“, fiel ihm Jenny ins Wort und eilte zur Treppe. Jan folgte ihr.
„Bleibt, wo ihr seid!“, rief sie vom Flur aus. „Hört ihr mich?“
„Ja“, bestätigten Michael vom Balkon und Anna aus ihrem
Weitere Kostenlose Bücher