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Wildnis

Wildnis

Titel: Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Zahrnt
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Führerschaft übernommen hatte, war ihm erstmals aufgefallen, als sie mit Logann erneut auszog, um Laura zu retten. Sie hatte nüchtern darüber gesprochen, ob sie das Gewehr dalassen oder mitnehmen solle – niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie am Vortag Greg damit erschossen hatte. Er wäre ausgerastet, wenn er einen von ihnen getötet hätte, da war sich Jan sicher. War sie deswegen so gefühllos, als wäre ihre Seele eingefroren: um nicht davongeschwemmt zu werden?
    Langsam näherten sie sich den Bergen. In einigen Tälern reichte der Wald hoch hinauf, von Schneisen durchzogen, in denen im Winter die Lawinen wüten mussten. Auf den Wind und Wetter ausgesetzten Rücken und Flanken allerdings hielten sich nur Gras und Büsche. Tausend Meter über dem Tal thronte der breite Gipfel dieses Vorbergs, dahinter bleckten die Viertausender ihre schneeweißen Zähne.
    Zum Glück mussten sie nicht dort hinauf, sondern konnten sich an das Flüsschen halten, auf das sie gegen Mittag stießen. Doch je tiefer es sich in die Hügel einschnitt, desto beschwerlicher wurde auch hier das Fortkommen. Oft mussten sie Umwege machen, wenn die Felsen zu nah ans Wasser traten und ihnen den Durchgang versperrten. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätten Jan die engen Schluchten mit dem Wechsel aus Gischt und Gumpen bezaubert – nun untergruben sie die Zuversicht, die er aus ihrem geschickten Karten-Manöver gewonnen hatte. Wenn sie nicht einmal diesem Flüsschen durch die Hügel folgen konnten, wie sollte ihnen das über viele Kilometer durchs Gebirge gelingen?
    Von einer Kuppe erblickten sie den breiten Strom, der das Wasser aus dem See ins ferne Meer führte. Dunkelblau mäanderte er zu den Bergen. Sie machten sich an den nächsten Abstieg. Wie groß waren ihre Chancen? Jan dachte an den Tod. Und an Anna. Liebte er sie? Liebte sie ihn? War das nicht ein und die gleiche Frage? Könnte er sich je trauen, sie zu lieben, wenn er nicht wüsste, dass sie seine Liebe erwiderte? Spielte das alles noch eine Rolle? Oder war es jetzt, in diesen vielleicht letzten Stunden das Einzige, was noch zählte?
    Vom nächsten Buckel aus erkannte Jan den steilen Aufschwung, den sie auf ihrer Karte markiert hatten. Dahinter verschwand der Strom, dahinter lag die große Schlucht. Eine Stunde später gelangten sie an den schotterigen Rücken und rasteten auf flechtenüberzogenen Steinen. Die Umgebung war günstig: kaum Bäume, nur wenige höhere Büsche zwischen dem Heidekraut, nicht genug für die Mörder, um sich anzuschleichen. Wie gut es tat, sich hinzusetzen! Auch die Luft war angenehm, der Tag ungewöhnlich kühl geblieben.
    „Kommst du für einen Moment mit mir mit?“, fragte Michael. Widerwillig erhob sich Jan. Was gab es zu besprechen, das die Mädchen nicht wissen durften?
    Michael hielt erst, als sie sich ein gutes Stück entfernt hatten, und sprach dennoch gedämpft: „Ich will dir etwas beichten.“
    Jan widerstand dem Impuls, zurück zu den Mädchen zu laufen. War alles nicht schon scheußlich genug? Er wollte keine Geheimnisse teilen, doch Michaels Grabesstimme ließ ihm keine Wahl.
    „Du weißt, ich war besessen von Anna. Von Anfang an hat sie mich fasziniert, so wild und unabhängig, so uneinnehmbar für all meine Verführungskunst, und zugleich irgendwie schutzbedürftig, leidend, als riefe sie nach jemandem, der sie heilt. Hier im Tal wurde aus der Faszination eine Gier, die mir den Verstand raubte – oder meinen Verstand für ihre Zwecke missbrauchte. War es Liebe? Nein, sonst hätte ich das nicht getan. Ganz gleich, was es war, seit der Gewitternacht, seit all der Horror begonnen hat, spüre ich einen solchen Hass auf dieses Verlangen, dass ich es beherrschen kann.“
    „Worauf willst du hinaus?“
    „Ich habe mir das so oft durch den Kopf gehen lassen ... in den letzten Nächten, auf dem Marsch. Vielleicht habe ich gehofft, dass ich es mir nur oft genug selbst aufsagen muss ... Aber jetzt, da uns der Tod so nahe ist ...“
    Jan blickte hinaus aufs Tal. Der See glänzte in der Ferne. Irgendwo ganz da hinten lag ihr gelbes Haus mit den grün gestrichenen Fensterläden und den Säulen und der Messingglocke. Und an der Wand klebte Gregs Blut. „Was ist?“, fragte er sanft.
    „Es war meine Idee.“
    „Was?“
    Michael schwieg, dann stieß er hervor: „Der Kojote!“
    „Nein!“
    „Was ist los?“, rief Jenny herüber.
    „Nichts“, antwortete Jan, und leise: „Nichts, außer, dass mein bester Freund ...“ Er sah Michael

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