Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
sehr angespannt sind, funktioniert diese Kontrolle nur abgeschwächt. Ich würde das nicht als verrückt bezeichnen, sondern als evolutionsbiologisch genialen Mechanismus der Informationsauswertung: Bei Gefahr sehen wir den Feind lieber einmal zu oft als zu wenig.“
Jan schloss das Fenster. Es ging ein leichter Wind, alle Büsche bewegten sich, die Birken rauschten sacht. Er würde Anna nicht mehr entdecken.
Wenn sie überhaupt am Fenster gestanden hatte.
„ Ich hole Ihnen eine neue Tasse.“ Herr Benounes wandte sich zum Gehen.
„ Warten Sie! Ich sehe ihre schwarzen Locken und die hellen Augen so klar vor mir ...“
„ Erinnern Sie sich, worüber wir uns eben unterhalten haben?“, fragte Herr Benounes sanft. „Ich habe von dem jüdischen Kaufmann gesprochen , den die Nazis im KZ vergast haben. Seinen Tod habe ich nicht erwähnt, aber Sie konnten sich ein solches Schicksal aus dem Kontext ableiten. Das Haus ist gewissermaßen verwünscht, könnten Sie gedacht haben, einen Sekundenbruchteil, bevor Sie ein Gesicht aus den Augenwinkeln erspäht haben. Schwarze Haare, ein kränklicher Ausdruck ... Anne Frank drängt sich da auf. Anne, Anna ...“ Er lächelte. „Das ist nur eine Möglichkeit der Assoziation, ihr Gedankenfluss mag ganz anders verlaufen sein. Jedenfalls liegt es nahe, dass Sie bei all der Anspannung Anna zu sehen meinen.“
Jan nickte, wollte sich fügen, konnte jedoch das Bild nicht loswerden.
Herr Benounes ging zum Tisch und sammelte die Scherben vom Boden auf. Jan schaute ihm zu. Sein Blick sprang immer wieder zu den Fenstern.
„ Ich bin gleich zurück“, sagte Herr Benounes. Er hatte die Scherben und einige durchtränkte Taschentücher auf das Tablett gelegt und ging damit aus dem Zimmer.
Wenn er dürfte, würde er die Nacht hierbleiben, beschloss Jan. Entweder schützte er den Psychiater vor einer realen Gefahr oder der half ihm, seine Nerven im Griff zu behalten.
Herr Benounes kam mit dem Tablett zurück, auf dem diesmal nur eine Tasse stand. „Ja, diese Villa, das ist eine faszinierende Geschichte. Der General verschwand in den Wirren der letzten Kriegstage.“ Er stellte das Tablett ab und goss Jan ein. „Vielleicht ist er beim Kampf um Berlin gefallen, vielleicht hat er sich nach Südamerika abgesetzt, jedenfalls plünderten die Russen das Haus. Unter den Kommunisten galt Jugendstil nicht mehr als entartet, das hieß nun bourgeois.“
„ Könnten wir draußen nachschauen, dass sie wirklich nicht da ist?“
Herr Benounes zögerte, dann sagte er ernst: „Das können wir machen.“
„ Gut.“ Jan fühlte sich nicht wohl beim Gedanken an den nächtlichen Garten, aber noch unangenehmer war ihm die Vorstellung, dass sich Anna in der Dunkelheit herumtrieb und er wie blind drinnen im Licht saß.
„ Lassen Sie uns erst den Tee austrinken“, Herr Benounes nahm die Porzellantasse in seine schmalen Hände, „sonst wird er kalt.“
Sie tranken im Stehen. Herr Benounes stieg in den ersten Stock und kam bald darauf mit Cordhose und Pullover bekleidet zurück.
Während sie sich die Jacken anzogen, fragte Jan, der nicht verkrampft wirken wollte: „Seit wann wohnen Sie hier?“
„ Seit Mai. Ich habe das Haus im Februar übernommen und einige größere Reparaturen ausführen lassen. Es war eine Versteigerung nach einem Todesfall, und der alte Besitzer hatte seit Jahren nichts mehr gerichtet.“
„ Deswegen sind die Räume noch so leer.“
„ Ja, ich habe die meisten meiner Möbel in der alten Wohnung zurückgelassen. Sie passten nicht vom Stil und ... ich wollte sie nicht mehr sehen. Jetzt kaufe ich peu à peu einzelne Stücke in Antiquitätenläden und auf Trödelmärkten.“
Einer grünen Kommode, auf der sich ein Strauß idealisiert gezeichneter Feldblumen rankte, entnahm Herr Benounes eine Taschenlampe, die er Jan gab, und ein metallisches Gerät. Es hatte einen anatomisch gewellten Griff, darüber eine Taste, die an den Abzug eines Gewehres erinnerte, und am Kopf zwei kurze, aufeinander zugerichtete Drähte.
„ Den habe ich mir angeschafft, als ich hier rausgezogen bin. Das nächste Haus ist ein Restaurant, das nachts unbewohnt ist, und dann kommt wieder einen Kilometer nichts, bis die Siedlung anfängt. Tagsüber sind zwar viele Spaziergänger und Radler unterwegs, aber nachts, in der kalten Jahreszeit, sieht man keine Menschenseele. Der Vorbesitzer hatte einen Schäferhund. Ich dachte mir, ein Elektroschocker ist pflegeleichter.“ Er lächelte breiter als
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