Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
setzte sich. „Sogar sehr. Vor allem Gedichte. Und Theaterstücke. Natürlich auch Romane. Ich habe bei Ihnen Hesses Siddhartha gesehen, den habe ich an einem Tag verschlungen.“
„ Siddhartha ...“ Herr Benounes nickte und schien dem Buch nachzufühlen. „Die Geschichte hat mir gefallen. Sonst ist mir Hesse zu süßlich. Ich bin einer der wenigen Araber, die ihren Tee ohne Zucker trinken.“
„ Wo kommen Sie ursprünglich her?“
„ Aus Marokko, ich bin also nicht wirklich Araber, obwohl vermutlich recht viel arabisches Blut in unserer Familie fließt.“
„ Vielleicht wollen Sie Ihre Familie einmal wieder besuchen?“
Ratlos hob Herr Benounes eine Augenbraue.
„ Sie könnten gleich morgen früh einen Flug nehmen.“
Herr Benounes lachte kurz und leise. „Ich habe Patienten, die auf mich angewiesen sind. Wenn ich in Urlaub fahre, bereite ich sie gründlich darauf vor, und trotzdem ertragen einige von ihnen meine Abwesenheit nur schlecht. Ich kann nicht von heute auf morgen verschwinden.“
„ Ich will nicht pathetisch klingen, Herr Benounes, aber ich hatte schon einmal so eine Vorahnung, vor über einem Jahr in Alaska. Da hatte ich gleich nach unserer Ankunft eine plötzliche Beklemmung, weil ich fürchtete, dass die Gruppe sich gegen Anna wenden könnte ... und das hat sich bewahrheitet.“
Herr Benounes nahm das Sieb aus dem Tee und schenkte ein. „Wie haben Sie mich übrigens gefunden?“
„ Über Facebook. Ein Eintrag einer islamischen Seelsorgergruppe.“
„ Ach so! Ich dachte, dieser Schiefer habe meine Adresse rausgerückt, um mir eins auszuwischen.“
„ Mag er Sie nicht?“ Soviel zu Annas Theorie, dass der Kommissar und der Arzt unter einer Decke steckten.
„ Er hat Zweifel erhoben, ob in meiner Abteilung alle notwendigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden seien. Natürlich wolle er meiner Karriere nicht schaden, hat er mir großherzig versichert, und da es bei allen Vorschriften einen gewissen Auslegungsspielraum gebe, sei er optimistisch, dass sich das regeln ließe – solange ich mich kooperativ verhielte, das verstand sich von selbst.“ Die sonst so freundlichen Augen funkelten empört. „Daraufhin habe ich meine ärztliche Schweigepflicht eng ausgelegt.“
„ Sie haben ihm nichts über Anna gesagt?“
„ Doch, das Wesentliche schon. Schließlich muss die Polizei sie finden, ehe sie sich oder Anderen Schaden zufügen kann. Aber das Unwichtige habe ich ihm verschwiegen, und da er nicht wissen konnte, ob da nicht etwas Entscheidendes dabei war, hat er sich geärgert. Wie schmeckt Ihnen der Tee?“
Jan probierte. „Sehr gut. Und Ihre Villa, die gefällt mir auch sehr.“
„ Sie ist spannend. Von außen lebensfroh und von innen zerfressen. Und ich darf sie wieder instand setzen. Kein Wunder, dass mir die Symbolik gefällt.“ Er blieb für einen Moment bei seinen Gedanken. „Ich würde gerne wissen, was für ein Mensch dieser General gewesen ist. Er hat an der Ostfront gekämpft und war nur einmal hier, im Frühjahr 44. Da hat er wohl die Zerstörung all der Elemente angeordnet, die zu sehr an den jüdisch-liberalen Kaufmann erinnerten, der das Haus 1911 hatte erbauen lassen.“
Jan ließ den Blick durch den Raum schweifen, drehte den Kopf zur Seite, um weiter hinter sich zu blicken – und stieß vor Schreck so heftig gegen das Tischchen, dass seine Teetasse umkippte, auf den Boden fiel und zersprang. Er kümmerte sich nicht darum, sondern hastete zum Fenster, zerrte am Griff, bis er sah, dass ein Riegel die beiden Fensterhälften zusammenhielt, klappte ihn zurück und riss das Fenster auf.
Er hatte sie gesehen! Ihre weiße Binde über dem Auge. Sie war hier!
Der nächtliche Garten lag still und leer vor ihm.
Er beugte sich weiter hinaus, nichts.
Die dunklen Büsche in einigen Metern Entfernung bewegten sich leicht. Lag sie dahinter oder war das der Wind?
„ Ist Ihnen schlecht?“, fragte Herr Benounes besorgt.
Ohne den Garten aus den Augen zu lassen, flüsterte Jan: „Ich habe Anna gesehen. Sie hat uns durch das Fenster beobachtet.“
„ Ist das das erste Mal, dass Sie sie seit ihrer Flucht gesehen haben?“
„ Ja.“
„ Vielleicht sind Sie ein bisschen nervös. Ich habe mir auch schon –“
„ Ich bin nicht verrückt!“
Herr Benounes gab ein kaum vernehmbares Lachen von sich. „Jeden Tag produziert unser Gehirn Hunderte von Fehlleistungen. Bloß merken wir das normalerweise gar nicht, weil wir ihnen keine Bedeutung beimessen. Wenn wir
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