Wildrosengeheimnisse
frühen Abend ist er noch immer nicht da.
Nini und ich stehen in meinem Bad und Nini versucht gerade, mir einen bunten Schmetterling auf die Wange zu malen, als ich den alten Volvo in die Einfahrt biegen sehe.
Nini ist der Meinung, dass ich nicht ganz ohne Verkleidung in die Stadt gehen solle, und da ich weder verrückten Hüten noch bunten Perücken etwas abgewinnen kann, kam sie auf die Idee mit der Wangenmalerei. Skeptisch betrachte ich mein Spiegelbild. Das sieht doch albern aus – in meinem Alter. Schließlich werde ich dieses Jahr 40.
Oh Gott, ich darf gar nicht daran denken.
»Haaaalt, ich bin doch noch gar nicht fertig«, schimpft Nini mit mir, doch es ist zwecklos, denn ich renne bereits die Treppe herunter und falle Christian stürmisch in die Arme.
»Wo warst du so lange?«, flüstere ich ihm zärtlich ins Ohr.
»Ich musste ein Netz suchen, um besonders hübsche Schmetterlinge einzufangen«, lacht Christian und drückt mich so fest, dass mir die Luft wegbleibt.
Ein Blick in den Flurspiegel verrät mir jedoch, dass sich der goldene Schmetterling auf meiner Wange nach dieser stürmischen Begrüßung in ein undefinierbar hässliches Etwas verwandelt hat. Genau genommen sieht es aus wie eine Mischung aus einem verwelkten Blatt und E.T. Na super.
Da wir spät dran sind, wasche ich mir schnell unter Ninis Protest die Malerei wieder ab und wir machen uns auf den Weg in die Stadt. Dort sind bereits unglaublich viele Menschen unterwegs und ich bereue, dass ich nicht doch wenigstens einen bunten Hut oder einen irren Schal angezogen habe, denn alle außer uns scheinen verkleidet oder maskiert zu sein.
Wir suchen uns ein Plätzchen am Straßenrand, um den Umzug der Hänsele in Ruhe betrachten zu können, und lassen das kostümierte Publikum und die besondere Atmosphäre auf uns wirken. Es ist bitterkalt und ich kuschele mich fest an Christians starke Schulter.
Heute Abend scheint der Nebel wieder besonders dicht zu sein, was zwar zu der etwas gespenstisch anmutenden Szenerie mit den vielen roten Hindenburg-Lichtchen auf den Fenstersimsen der Stadt sowie den vielen Masken sehr gut passt, aber mich schon bald frösteln lässt. Dabei sind wir gerade erst gekommen.
Christian spürt mein Zittern, zieht mich noch stärker in seinen Arm und fragt fürsorglich:
»Soll ich dir einen Glühwein holen, Liebling?«
»Nein, lass nur, ich gewöhne mich schon an die Kälte.«
Doch er sagt: »Warte, ich bin gleich wieder da mit etwas Warmem. Nicht weggehen, ja?«
Er küsst mich auf die Nasenspitze und verschwindet in der Menge.
Mir fällt auf, dass er, sobald er glaubt, meinem Blickfeld entschwunden zu sein, sein Handy aus der Tasche zieht. Aha. Er will also ungestört telefonieren und ich soll nicht zuhören – von wegen ›Glühwein holen‹. Doch dann schimpfe ich mit mir selbst und ärgere mich über mein Misstrauen. Wahrscheinlich gibt es nur wieder irgendwelche Probleme mit Klienten, die er lösen muss.
Dennoch wundere ich mich, als Christian eine halbe Stunde später noch nicht da ist.
Das Spektakel hat längst begonnen und die Hänsele hüpfen mit ihrem bunten Häs durch die Straßen, begleitet von lauter Blasmusik, die Überlingens Narrenmarsch spielt.
Unruhig trete ich, vor Kälte zitternd, von einem Bein auf das andere, immer schön im Takt der Fasnachts-Musik, und betrachte die vielen schwarzen Hänsele, von denen etliche eine Kabatsche, eine Art Peitsche, knallen lassen.
Auf einmal steht ein großer Narr vor mir mit einer gruselig hässlichen Hexenmaske aus Holz.
Er packt mich am Arm und drückt mich gegen die Wand der Apotheke, vor der ich stehe.
Hilfe, der macht mir Angst. Obwohl ich weiß, dass solche Späße unter den Narren, besonders den Hexen, weit verbreitet sind, klopft mein Herz laut, zumal sein Griff an meinem Arm stärker wird und die hässliche Maske näher kommt, bis sie ganz dicht vor meinem Gesicht ist. Ich versuche, hinter den Augenschlitzen ein paar freundliche Augen zu entdecken, um zu spüren, dass das Ganze nur Spaß ist, doch ich sehe nur zwei dunkle Flecke. Verdammt, diese Hexe macht mir Angst. Auf einmal zieht er oder sie mich auch noch heftig an den Haaren – aua. Das geht nun aber wirklich zu weit. Ich bin versucht, der Gestalt kräftig gegen das Schienbein zu treten, und reiße mich los.
Wo bleibt nur Christian?
Als er ein paar Minuten später mit zwei Bechern heißen Glühweins aus der Menge auftaucht, ist die Hexe verschwunden, aber ich zittere immer noch vor
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