Wildwasserpolka
Bogenfenster die Nacht vorwegzunehmen scheinen. Ich springe aus dem Wagen und renne humpelnd auf den Bahndamm zu, haste durch den engen, dunklen Schlauch, der auf die andere Seite in den Park führt. Ein Regionalexpress donnert über meinen Kopf hinweg. Ich halte inne und warte, bis sich der Lärm gelegt hat, trete schließlich ins Freie und suche hinter einem der mächtigen Ahornbäume Schutz. In kaum 50 Metern Entfernung, am Rande des Spielplatzes, erblicke ich Waskovic und Pavel. Vater und Sohn, die einen Spaziergang unternehmen, könnte man denken.
Ein Stück entfernt schiebt eine junge Mutter ihren Kinderwagen – es ist Denise. Auf der gegenüberliegenden Seite des Parks, hoch auf dem Siegdamm, verschafft sich ein Opa mit seinem Rollator Bewegung. Herbert. Denise muss ihn benachrichtigt haben.
Ich zücke mein Notfallhandy und wähle Waskovics Nummer, sehe, wie er sein Smartphone aus der Manteltasche zieht.
»Guten Abend, Waskovic. An ein paar Funkelsteinchen interessiert?«
Er antwortet nicht.
»Ich hätte da ein interessantes Angebot zu machen.«
»Ah, Frau Schiller! Jetzt erkenne ich Ihre Stimme. Nett, von Ihnen zu hören, ich habe nur leider keine Ahnung, wovon …«
»Salzmann soll ein fleißiger Sammler sein«, unterbreche ich ihn. »Ich könnte den Kontakt herstellen, wie wär’s? Wenn Sie die Sache nicht selbst in die Hand nehmen möchten, könnte ich Ihnen gleich das Komplettpaket bieten. Kommt ganz drauf an, was Sie anlegen wollen. Es wird allerdings ein bisschen teurer als die Sache mit Müller, fürchte ich.«
»Frau Schiller, es tut mir außerordentlich leid, aber …«
»Kuckuck!«, rufe ich und trete hinter dem Baum hervor.
Waskovic fährt überrascht herum.
Ich wedele mit meinen Papieren zu ihm herüber. »Was Sie für Leute kennen – stehen alle hier drin, in Ihrem lieben kleinen Tagebuch! Mit Ferdinand Kleefuß sind Sie besonders dicke, wie ich lese.«
Wenn man vom Teufel spricht. Aus Richtung des Theaters sprintet in diesem Moment der Kreismeister über den Rasen. Er hat eine Waffe gezogen und zielt auf mich, in vollem Lauf. Ich schaffe es gerade noch, Deckung hinter einem der mächtigen Bäume zu suchen, als ein Schuss haarscharf an mir vorbeipfeift. In den Baumkronen stieben Krähen auf, Dutzende von Krähen, eine wirbelnde schwarze Wolke.
»Weg da!«, rufe ich Pavel zu und sehe, wie Kleefuß seine Pistole auf ihn richtet. Ich habe meine PB bereits entsichert, ziele scharf, drücke ab, spüre den hämmernden Rückstoß. Sehe, wie der Kreismeister zu Boden geht.
»Hände hoch!«, höre ich Denise brüllen, der Rest geht unter im Geheul der Martinshörner. Eine Polizeistreife rast auf das Schulgelände, das unmittelbar an den Park grenzt. Reifenquietschen, Sirenenheulen, rotierendes Blaulicht. Eine zweite Polizeistreife trifft ein, dann eine dritte. Hektische Bewegung dort, wo sie zum Stehen kommen, Schemen, die sich in Position bringen.
In dem Moment, in dem das letzte Martinshorn verstummt ist, ruft Waskovic: »Bitte, Frau Schiller! So wahren Sie doch Vernunft! Es kann sich nur um ein Missverständnis …«
»Schnauze!«, brülle ich, meine Pistole auf ihn gerichtet.
»Keine Bewegung, oder ich schieße!«, brüllt eine weibliche Stimme unmittelbar hinter mir.
»Nicht schießen!«, schreit Pavel.
»Waffe weg!«
Langsam, sehr langsam lege ich die PB ins Gras, hebe die Hände über den Kopf und drehe mich um. Vor mir steht eine junge Polizistin, mit erhobener Dienstwaffe und versteinertem Gesicht, zu allem bereit. Sie muss durch die Unterführung gekommen sein, genau wie ich.
Sekunden später klicken Handschellen, und ich werde abgeführt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Polizisten die junge Mutter mit dem Kinderwagen abgeschirmt haben und den Opa mit seinem Rollator aus der Gefahrenzone lotsen.
Das Spiel ist aus.
32
Wenn wir bedenken, dass wir alle verrückt sind, ist das Leben erklärt.
Mark Twain
Was folgt, ist so langweilig und zugleich enervierend, dass ich kein Wort mehr darüber verlieren mag. Da der begründete Verdacht besteht, dass ich Müller getötet habe – noch dazu aus niedrigen Beweggründen –, ist eine vorläufige Freilassung auf Kaution nicht drin, und das bedeutet: U-Haft.
Immerhin gelingt es meiner Anwältin, eine sofortige Beschlagnahmung von Waskovics Rechner durchzusetzen, doch es dauert drei Tage, bis sie sämtliche Details des Geschehens erfasst hat. Ungleich länger braucht die Polizei. Nicht, weil sie weniger schnell von Begriff
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