Wildwasserpolka
kostet.
Doch ich wage nicht, Markus zu wecken. Er ist mit unserem Sohn Yannick zu Irene gefahren, der Düsseldorfer Oma, und ich bin einigermaßen erleichtert darüber, dass die beiden in diesen dunklen Stunden nicht zu Hause sind. Außerdem würde Irene sofort Wind von der Sache bekommen, wenn ich um diese Zeit anriefe, vermutlich hätte ich sie gleich persönlich am Handy.
Mitten in der Nacht bei den dreien aufzukreuzen, liefe auf dasselbe hinaus.
Ich entscheide, zu warten. Markus und Yannick werden in wenigen Stunden zurück sein; es ist ausgemacht, dass ich sie vormittags vom Bahnhof abhole. Anschließend werde ich direttamente zur nächsten Polizeiwache kutschieren, so mein Plan. Und dann werden wir sehen.
Das Gescheiteste, was ich bis dahin tun kann, ist ins Bett zu gehen, erschöpft und angeschickert, wie ich bin. Doch unverhofft erhebt sich zwischen mir und dem Traumland mein Gewissen wie ein unüberwindliches Riesengebirge. Kann ich zulassen, dass Müller und Salzmann dran glauben müssen?
Auch ein Mord bedarf einer gewissen Planung, wenn er kein Kamikazeunternehmen werden soll, versuche ich mich zu beruhigen. Unwahrscheinlich, dass der dicke Ernie sofort losrennen, zur nächtlichen Stunde an Müller und Salzmanns Türen klingeln und losballern wird. Sicher hat Ernie längst seinen wohlverdienten Feierabend eingeläutet, und auch Bert Waskovic ist über Nacht beschäftigt. Hoffe ich zumindest. Sicher bin ich mir nicht.
Also gebe ich mich geschlagen. Sagte ich bereits, dass es sehr viele Leute gibt, die Thomas Müller heißen? Jeder kennt einen Thomas Müller. Soll ich die etwa alle aus dem Bett klingeln und rausfinden, wer der Richtige von ihnen ist? Besser, ich konzentriere mich auf Stefan Salzmann. Unter diesem Namen gibt es nur einen Eintrag mit Eitorfer Adresse, der einzige überhaupt in der Region. Nach einigem Zögern verlasse ich das Büro und gehe ins Wohnhaus rüber. Ich öffne eine Flasche Marillenschnaps, die, mit Geschenkband versehen, seit ungefähr drei Jahren im Küchenschrank reift, und genehmige mir einen großen Schluck, bevor ich Salzmanns Nummer wähle.
Freizeichen. Endlos das Freizeichen.
Hört Salzmann das Telefon nicht? Ist er nicht daheim? Oder ist er schon tot?
»Ja?« Die Stimme klingt kehlig und verschlafen.
»Spreche ich mit Herrn Salzmann? Stefan Salzmann?«
»Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Ja, aber es ist wichtig.«
»Was wollen Sie? Und wer sind Sie überhaupt?«
»Herr Salzmann, mir ist nicht bis ins Detail bekannt, was sie so treiben, aber von jetzt an sollten Sie sehr vorsichtig sein. Am besten, Sie packen Ihre Sachen und verschwinden. Für immer.«
»Wie?«
»Es geht um Leben und Tod, haben Sie verstanden?«
»Nein. Was soll denn …?«
»Das gilt auch für Ihren Freund Müller. Richten Sie ihm das bitte aus. Bitte! Mehr kann ich nicht für Sie tun.«
Klick. Ende des Gesprächs. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann schlafen gehen. Oder vielmehr wanken, denn der Fußboden scheint plötzlich ziemlich holprig zu sein. Ich falle ins Bett, und während mir diverse Formulierungsversuche durch den Kopf kreisen, wie ich Markus die ganze Geschichte möglichst schonend beibringen kann, schlafe ich ein.
Als ich aufwache, ist ein neblig-grauer Morgen hereingebrochen. Und ich lebe noch.
Vielleicht bin ich mit einem blauen Auge davongekommen. Hätte Waskovic meine Anwesenheit auf dem Hotelbalkon bemerkt, hätte er Salatohr-Ernie sicher angewiesen, mich ebenfalls sofort ›auszuschalten‹ – auf welche Art und Weise auch immer. Aber bisher hat mich niemand im Waskovic’schen Privatpark erschlagen, im Eitorfer Wald erschossen oder auf einsamer Landstraße mit dem Auto abgedrängt. Und niemand hat mir einen nächtlichen Besuch abgestattet.
Ich entscheide, dass es gut für mich aussieht, koche eine Kanne Tee und pule eine Handvoll Rosinen zum Knabbern aus der Müslipackung. Mehrmals versuche ich, Markus auf dem Handy anzurufen, erhalte jedoch nur die Nachricht, dass er nicht zu erreichen sei. Offenbar sitzen die beiden schon wie geplant im Zug und haben keinen Empfang; mir bleibt noch eine gute Stunde Zeit.
Ich dusche und ziehe mir etwas Polizeitaugliches an, trinke zwei Tassen Tee, laufe die Straße hinunter zum Bäcker und kaufe sechs Laugenbrezeln.
20 Minuten später erreiche ich den Bahnhof, stelle den Mondeo auf einem der ungeteerten Parkplätze gegenüber dem ICE-Bahnhof ab und nehme die Treppe hinauf zu den Gleisen, wo ich warte.
Der Zug
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