Wildwasserpolka
den Augen ab, kann Waskovic jedoch nirgendwo entdecken. Ein älteres Ehepaar kommt mir entgegen, eine junge Frau mit einem grauschnäuzigen Hund, zwei Teenager in Trainingsklamotten. Ich nehme jedes einzelne Boot ins Visier – nichts.
›Hinter dem Yachthafen‹, das kann alles Mögliche bedeuten. Ich gehe weiter und gelange auf das Eiländchen, die Landzunge zwischen Hafen und Siegmündung. Ich spähe in das Wäldchen zu meiner Linken, folge der Wegschleife zurück in Richtung Yachthafen, entscheide mich um und renne quer über die Wiese, auf die andere Seite der Landzunge. Ich umrunde die Grillhütte, nichts. Der Boden ist weich vom vielen Regen und dem Schmelzwasser des Hagelschauers, der gestern ein heftiges Aprilgewitter begleitete. Im Nu heften sich Erdklumpen an meine Sohlen. Ich stapfe weiter und erreiche die Mündung der Sieg. Genau hier habe ich einmal illegale Angler überführt, was keine große Kunst gewesen ist. Der örtliche Angelverein hatte mich beauftragt, der vermuteten Räuberei nachzugehen, und ich hatte nicht viel mehr tun müssen, als mich nach Anbruch der Dunkelheit auf mein Klappstühlchen ins Gebüsch zu setzen und auf die Diebe zu warten, die das Aufsteigen der Lachse vom Rhein in die Sieg nutzen wollten, um Beute zu machen. Sie kamen tatsächlich, und als der erste Fisch gefangen war, hatte ich gemütlich die Polizei gerufen, das war’s.
In diesem Augenblick empfinde ich es hier alles andere als gemütlich. Immer wieder sehe ich mich um, doch hier ist niemand; von Waskovic keine Spur. Erneut macht sich der gelbe Knochen bemerkbar.
»Ja?!«
»Bist du schon da, Schätzchen?«
»Ich suche Sie!«
»Tja, es scheint mir doch besser, wir sind völlig ungestört.«
Klar, wenn ich jemanden abknallen wollte, würde ich mir auch ein anderes Plätzchen suchen. Warum hat er das allerdings nicht gleich getan? Warum hat er mich hierher gelotst? Etwa nur, um mich in die Irre zu führen?
»Wir treffen uns an der Siegfähre«, befiehlt Waskovic. »Mach dich auf den Weg.«
Ich gehorche, renne zurück über die Wiese, am Wäldchen vorbei, ums Hafenbecken, zum Wagen. Ich fahre los, bin in wenigen Minuten drüben, parke, gelange an der Gaststätte vorbei ans Ufer, schaue mich um.
Still ist es hier, abgesehen vom Rauschen der L 269 gleich nebenan. Die Treidelfähre dümpelt vor sich hin, kein Mensch ist zu sehen. Im Sommer ist hier der Teufel los: Spaziergänger, Radfahrer, Ausflügler, alle wollen sich auf diese romantische Art übersetzen lassen, anstatt wenige hundert Meter weiter über die Brücke zu latschen. ›Fährmann, hol über …‹
Doch um diese Jahreszeit hält die Fähre ihren Winterschlaf, und auch das Gasthaus ist geschlossen. Hier ist niemand. Ich gehe ein paar Schritte am Ufer entlang, bleibe stehen. Schon wieder der Hundeknochen.
»Da bist du ja!«
Erschrocken fahre ich herum, kann aber niemanden entdecken. »Wo sind Sie?«
»Schau doch mal rüber!«
Am anderen Ufer, keine 50 Meter entfernt, entdecke ich eine Gestalt. Sie tritt hinter dem Gebüsch am Bootssteg hervor, kommt näher und steht nun allein und gut sichtbar am Wasser. Kein Zweifel: Es ist Waskovic.
Er zieht etwas unter seiner Jacke hervor und beginnt damit zu winken; ein schlaffer brauner Arm schnellt auf und ab. Im selben Moment schreie ich auf. Das Rülpsmonster! Er hat das einarmige Rülpsmonster an sich gebracht, unser Wappentier, unser Familienmaskottchen! Eine Kreuzung aus Affe, Teddybär und Zombie, ein seltsames Geschöpf, von dem keiner weiß, wie es zu uns gelangt ist. Eines Tages war es da und hat all die niedlichen, pädagogisch wertvollen Schmusetiere aus dem Kinderbettchen geboxt, und weil es zu allem Überfluss unfeine Geräusche machen kann, haben wir es ›das Rülpsmonster‹ getauft. Anfangs hatte es noch beide Arme, doch auch seine spätere Behinderung konnte Yannicks heißer Liebe keinen Abbruch tun. Ohne sein Rülpsmonster tut er keinen Schritt vor die Tür. Wie zum Teufel kommt Waskovic …?!
Der lässt das Stofftier gerade wieder unter seinem Mantel verschwinden, und trotz der Entfernung glaube ich, ein deutliches Grinsen ausmachen zu können.
»Willst du nicht wissen, wen ich noch getroffen habe?«, fragt er ins Handy.
Nein, ich will es nicht wissen. Auf keinen Fall. Nicht jetzt und nicht später. Niemals. Never. Jamais.
Der Boden beginnt zu schwanken, das Ufer bewegt sich, gleich werde ich fallen, fallen …
»Ich bedaure, dass sich dein Sohn gerade ein bisschen einsam fühlen
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