Wildwasserpolka
Geschichte ist total verrückt.
Tief durchatmen. Ruhe bewahren. Nachdenken.
Langsam beruhigt sich mein Puls, meine Hände hören auf zu zittern.
Also gut.
Ich steige aus, öffne meinen Notfallrucksack und hole die falschen Nummernschilder heraus. Nicht hundertprozentig legal, ich weiß, aber höchst effektiv. Per Magnethalter klemme ich die neuen Kennzeichen auf die alten – von jetzt an bin ich als Bonnerin unterwegs. Ich schlüpfe in meine Anstreichermontur, eine weiße, farbbeschmierte Latzhose, kombiniert mit einer Basecap, die die Haare verbirgt. Vermutlich nicht die beste Tarnung mitten im Wald, aber warum sollte die Malergesellin nicht während der Mittagspause vor den tumben Scherzen ihrer männlichen Kollegen geflüchtet sein? Überhaupt sind solche Überlegungen müßig, es kommt kein Mensch. Und ich habe andere Sorgen.
Leider kann ich die selbstklebende Handwerkerwerbung nicht am Wagen anbringen, denn die befindet sich im Kofferraum unter der Gummimatte, und auf ihr liegt Thomas Müller. Mein Verstand weigert sich, ihn Tom zu nennen, bei jenem Namen, unter dem ich ihn kannte; unter dem er mich auf die Massageliege in seinen Keller …
Stopp! Wasserwellen-Tom hat nichts mit diesem kriminellen Typen hier zu tun, vielmehr: Ich habe nichts mit ihm zu tun. Er ist mir fremd, völlig unbekannt, also werde ich es bei ›Herrn Müller‹ belassen.
Es erscheint mir alles irreal, eine Leiche im Kofferraum ist so ziemlich das Irrealste, was man sich vorstellen kann, und dennoch ist Müller auf sehr reale Weise tot. Ein schönes Plätzchen soll ich für ihn suchen, hat Waskovic gemeint. Pah!
Eine Sekunde lang erwäge ich, ihn einfach im Wald liegen zu lassen. Nicht besonders pietätvoll, jedoch allemal pietätvoller als tot in einem Kofferraum zu verschimmeln. Ich könnte Müller gleich hier in die Nähe des Franziskanerwegs betten, auf dem die Mönche einst das Tal hinaufgewandert sind. Ein schönes Plätzchen, in der Tat. Doch es würde vermutlich keine halbe Stunde dauern, bis der erste Hund ihn erschnüffelt hätte. Und sicher hat Ernie den toten Müller in meinen blauen Büroteppich eingewickelt, bevor er ihn in meinen Wagen hievte, um ihn von oben bis unten mit meiner DNA zu pudern – falls ihm nicht noch Kreativeres eingefallen ist.
Was also tun? Ein Blick auf die Uhr: zehn nach eins. Markus und Yannick müssten inzwischen zu Hause sein. Ein Zuhause, das sie reichlich lädiert vorfinden werden. Verdammt, Waskovic! War es wirklich nötig, unsere Bude abzufackeln?
Aber zumindest leben meine beiden Männer noch und sind nicht entführt worden. Sie sind okay, ihnen geht es gut. Und ich muss mich nun um dringende Angelegenheiten kümmern.
Müller. Zuerst muss ich diesen Müller loswerden. Wenn ich ihn nicht mehr in meinem Kofferraum spazieren fahre, kann niemand einfach behaupten, ich hätte ihn umgebracht. Ich muss es so geschickt anstellen, dass man ihn nicht findet – vorerst zumindest nicht. Dann wäre er offiziell gar nicht tot, sondern lediglich verschwunden. Durchgebrannt.
Wenn die Sache irgendwann ausgestanden ist, kann ich immer noch mit der Wahrheit herausrücken. Ich habe zwar keinen blassen Schimmer, wie ich diese Geschichte jemals aufklären soll, aber alles schön der Reihe nach. Nochmals: Durchatmen. Ruhe bewahren. Nachdenken.
Ich steige in den Wagen, nehme eine Brezel aus der Bäckereitüte, die nach wie vor auf dem Beifahrersitz liegt, und beiße herzhaft hinein. Ich lasse das Seitenfenster herunter und hänge einen Arm aus dem Fenster. Die Brezel lege ich aufs Armaturenbrett, nehme einen Schluck Mineralwasser aus der Flasche und drehe bedächtig den Plastikverschluss zu. Noch zwei Bissen und der Spaziergänger hat meinen Wagen passiert, ohne sonderlich Notiz von mir genommen zu haben. Als er außer Sicht ist, wische ich meine Finger hastig an meiner Malermontur ab, starte den Motor und wende.
In Hennef steuere ich den nächstgelegenen Baumarkt an, um einen Klappspaten zu kaufen. Mir ist alles andere als wohl dabei, doch ohne Arbeitsgeräte wird es nun einmal nicht gehen. Dicke Handschuhe, eine Plane, ein Seil. Zur Tarnung kaufe ich noch eine Palette Stiefmütterchen und lege als Nervenfutter eine Tüte Weingummi dazu. Apropos Futter: Wenn ich eine Weile durchhalten will, brauche ich Proviant, also sprinte ich noch in den Discounter gegenüber und werfe alles, was sich ungekocht verzehren lässt, in meinen Einkaufswagen. Ich dränge mich unauffällig an der Kasse vor, packe meine
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