Wildwasserpolka
mich jetzt befinde, stand einst die Pulvermühle, eine Schwarzpulver-Produktionsstätte, die aus einer Reihe massiver, mit gehörigem Sicherheitsabstand zueinander errichteter Gebäude bestand. Während des Betriebs vor rund einem Jahrhundert kam es häufiger zu Explosionen, die Menschenleben kosteten. Die Gebäude hingegen verkrafteten sie erstaunlich gut: Sie waren darauf ausgelegt mit ihren meterdicken Außenwänden aus Stein und Beton, die sie von drei Seiten umgaben. Die jeweils vierte Wand sowie die Dächer waren weniger stabil, damit der Druck im Falle einer Detonation entweichen konnte und sich die Beschädigungen in Grenzen hielten. Die Ruinen stehen noch heute. Vor Jahren hat Markus mich einmal hierher geschleppt, nachdem er etwas über die Mühle gelesen hatte. Wie Diebe sind wir damals auf dem unheimlichen Gelände herumgeschlichen und haben uns nasse Füße geholt. Irgendwann habe ich mich geweigert weiterzugehen, weil ich das Gefühl nicht loswurde, auf einem Pulverfass herumzutrampeln, das jeden Moment in die Luft gehen konnte. Was natürlich Quatsch war.
Vor dem Teich zweigt ein säuberlich mit Rindenmulch ausgestreuter Weg ab, der unmittelbar unterhalb des Steilhangs durch das Mühlengelände führt und von der gegenüberliegenden, höheren Warte aus schlecht einsehbar ist. Ich zögere nicht lange und folge ihm. Sofern sich Vanessa und die Krawallhose jetzt auf dem Hauptweg nähern, entdecken sie mich wenigstens nicht sofort.
Meine Schulter schmerzt, meine Hüfte schmerzt, ebenso mein linkes Bein. Von meinem Kopf ganz zu schweigen. Ich beiße die Zähne zusammen. Der Weg führt unter zwei massiven Betonbögen hindurch, dann scharf am Rand des Tales entlang. Links zieht sich ein Nadelwald den extrem steilen, moosbewachsenen Hang hinauf und bietet kaum eine Chance zur Flucht.
Rechter Hand ragt die erste Ruine vor mir auf. Ihre meterdicken grauen Wände sind übersät mit Löchern, als hätte sie einem Sperrfeuer standgehalten. Hinter der Ruine mache ich einen Erdwall aus, auf dem eine mächtige Tanne thront. Es gibt mehrere dieser Wälle auf dem Gelände, wie ich mich erinnere. Sie wurden einst aufgeschüttet, um die bei einer Explosion entstehenden Druckwellen zu brechen.
Plötzlich Motorgeräusche. Ich bleibe hinter dem steinernen Bollwerk stehen und lausche. Keine zehn Sekunden später nähert sich ein Wagen. Vanessas Mini. Er kommt vom Taleingang her, aus dem Ort. Vanessa weiß also, wo sie mich suchen muss, und wie sie am schnellsten dorthin gelangt. Sie muss eine Empfangsantenne haben – und ich halte noch immer den Sender in Händen.
Was tun? Loslaufen in der Hoffnung, dass ich den Ausgang des Tals erreiche, ehe sie mich schnappen? Keine Chance. Bleiben die Ruinen. Ich muss mich irgendwo verstecken. Doch wenn sie den Sender finden, wissen sie, dass ich nicht weit sein kann, dann können sie sich in Ruhe umschauen, während ich wie die Maus in der Falle sitze.
Ich humpele eilig weiter, gelange zu einem zweigeschossigen Gebäude, dessen Zwischenboden erhalten geblieben ist. Dem oberen Geschoss fehlen ein Teil der Wände und das Dach. Eine moosbewachsene Steintreppe führt nach oben ins Nichts. Das untere Geschoss ist in zwei Räume gegliedert, eine große, rechteckige Öffnung in der Mauer führt wie ein schwarzer Schlund in den rückwärtigen Teil des Gemäuers.
Insgesamt besteht der Bau aus drei Segmenten, wie ich jetzt erkenne: dem rechten, zweigeschossigen mit der Treppe, dem mittleren, das gänzlich offen und einsehbar ist, und dem linken, in dem sich eine winzige, dunkle Kammer befindet.
Das Motorgeräusch erstirbt, ich höre Stimmen. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr. Ob ich mich in der Kammer verstecken soll? Der Zaun, der den Rundweg vom eigentlichen Mühlengelände trennt, ist nicht hoch. Ich könnte darüber steigen.
Noch einmal zurück auf die andere Seite, dorthin, wo sich die Treppe ins Nichts befindet. Der Raum darunter ist durch einen gesonderten Metallzaun mit offenen Spitzen gesichert. Sicher sehr unangenehm, darüber zu steigen – aber nicht unmöglich. Wer um sein Leben bangen muss, wird das Wagnis eingehen, ohne mit der Wimper zu zucken.
Ich nehme den Miniatursender, ziele und schleudere ihn über den Zaun hinweg, durch den offenen Schlund der Wand in den hinteren, nicht einsehbaren Raum. Dann laufe ich los.
Wieder Stimmen. Die beiden befinden sich jetzt irgendwo hinter mir auf dem Gelände und kommen näher.
Ich haste weiter, über einen schmalen Steg, den Pfad
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