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Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy , Carson Ellis
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die Tür zu. Ihre rote Unterwäsche war eine Nummer zu groß, sodass sie die Hosenbeine im Gehen hochziehen musste. Sie baute sich unter dem Lautsprecher aus und sprach die körperlose Stimme wütend an.
    »Hallo?«, rief sie. »Ich bin nur vorübergehend hier. Meine Schwester auch. Wir gehören nicht ins Waisenhaus. Und wir werden in keiner Fabrik arbeiten.«
    Keine Reaktion.
    »Und fürs Protokoll: Ich finde nicht, dass die Kinder hier anständig behandelt werden. Außerdem ist Kinderarbeit verboten, glaube ich. Da bin ich mir sogar ziemlich sicher.«
    Immer noch Stille.
    »Das ist ungerecht. Ich möchte sofort jemanden anrufen oder so was.«
    In einer Ecke flüsterten zwei Mädchen halblaut miteinander.
    »Also gut.« Rachel gab sich jetzt noch herausfordernder. »Wie wäre es damit: Ich weigere mich, in dieser blöden Fabrik zu arbeiten.« Dann streckte sie die Zunge heraus und marschierte stolz zu ihrem Bett zurück. Alle im Raum beobachteten sie wortlos. Martha stand wie angewurzelt da, die Hände immer noch an der Brille auf ihrer Stirn. Da Elsie nicht wusste, was sie sagen sollte, drückte sie auf den Knopf an Tinas Rücken. »EIN GUTER TAG FÄNGT IMMER MIT EINEM AUSGEWOGENEN FRÜHSTÜCK AN«, verkündete die Puppe hilfreich.
    Noch ehe Rachel bei ihrem Bett angekommen war, erwachte der Lautsprecher stotternd zum Leben. Sie blieb ruckartig stehen. »BETT DREIUNDZWANZIG«, sagte die Stimme, und dann: »EIN STRAFPUNKT.« Falls eine Roboterstimme ungerührt klingen konnte, dann tat sie das in diesem Moment.
    Innerhalb weniger Sekunden wechselte Rachels Miene von Stolz über Schock zu Wut, Elsie konnte es genau mitverfolgen. Doch bevor Rachel sich umdrehen und eine gepfefferte Antwort geben konnte, hielt Elsie sie am Arm fest.
    »Bitte«, flehte sie. »Lass es! Sei einfach still.«
    Rachel starrte die Hand ihrer Schwester an, ihre Muskeln zuckten unter dem Griff. Endlich wichen der Zorn aus ihrem Gesicht und das böse Blitzen aus ihren Augen. Elsie spürte, dass ihr Arm sich lockerte, und sie ließ ihn los und sah ihre Schwester fest an.
    »Nur zwei Wochen«, sagte sie. »Lass uns das einfach durchhalten.«
    »Okay, Elsie. Okay.« Rachel sank auf ihr Bett.
    Es dauerte mehrere Minuten, bis sich die dramatische Atmosphäre im Schlafsaal wieder gelegt hatte. Elsie spürte, dass alle sie und ihre Schwester beobachteten, während sie gehorsam in die grauen Overalls stiegen. Miss Talbot nahm die Kleider in Empfang, die sie bei ihrer Ankunft getragen hatten, und erklärte, die dürften sie anziehen, wenn mögliche Adoptiveltern zu Besuch kämen – wobei nichts dafür spräche, dass so etwas jemals vorkommen würde. Dann reihten die Mehlbergs sich in die Schlange der anderen Mädchen ein und traten den langsamen Marsch in den Speisesaal an, wo ein Frühstück aus matschigen Pancakes und wässrigem Orangensaft auf sie wartete. Bald kam auch der zweite Schlafsaal hinzu, ein verdrossener Trupp Jungen in grauen Overalls, die in den Raum strömten und sich schweigend auf ihr Frühstück stürzten. Elsie und Rachel saßen einander gegenüber an einem langen Tisch etwas abseits der anderen Kinder, wenn auch nicht freiwillig: Niemand ließ sich herab, sich zu ihnen zu setzen. Rachel stocherte in ihrem Essen herum, nach zwei Bissen legte sie resigniert die Gabel weg. Der Funke, den Elsie vorhin noch in ihren Augen gesehen hatte, war längst verschwunden. Zurück war die Rachel, die sie kannte: mürrisch und wortkarg.
    Nachdem sie aufgegessen und ihre Metalltabletts auf ein langsam zuckelndes Förderband gestellt hatten, reihten sich die Kinder auf eine gebellte Anweisung aus einem anderen Lautsprecher hin an einer Wand auf. Von dort aus zogen sie im Gänsemarsch durch die Tür und eine breite Treppe hinunter. In regelmäßigen Abständen war ein Zischen zu hören, irgendwo in weiter Ferne. Die Treppe führte in einen weiteren langen Flur, in dem die Schritte der Arbeiterkolonne hallten und der an einer hohen Flügeltür endete. Offenbar wurde sie automatisch aktiviert, denn sobald der Erste sie erreichte, schwangen die beiden Türen mit einem hydraulischen Keuchen auf und gaben einen Blick frei, der Elsie den Magen umdrehte.
    Es war ein großer Raum. Ein sehr großer Raum. Genau genommen konnte Elsie sich nicht erinnern, bei ihrer Ankunft im Waisenhaus ein Gebäude gesehen zu haben, in dem ein solch großer Raum Platz gehabt hätte. Aber hier war er, zweifelsohne, und er war bis zum Rand angefüllt mit Maschinen. Kleine

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