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Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy , Carson Ellis
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kommt?«, sagte Curtis. »Vielleicht hat einer von den beiden die gleiche Erbanlage, und der andere nicht.« Er dachte kurz nach. »Ich schätze mal, meine Schwestern sind dann wahrscheinlich auch Mischlinge, was?«
    Die Treppe war zu Ende, und ein weiteres Podest ragte in die Schlucht hinaus. Ein dicker Draht, der um die Spitze eines hohen Mastes gewickelt war, verschwand vor ihnen in der Dunkelheit, und ganz weit entfernt konnte man ein flackerndes Lagerfeuer erkennen. Curtis legte die Finger an die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus. Kurz darauf hörten sie ein Geräusch, etwas schabte über Metall. Ein Holzkreuz, mit Kupferkabel an einer Rolle befestigt, kam über die Seilrutsche angerauscht und knallte laut gegen den Mast. Curtis bremste es. »Willst du zuerst?«, fragte er.
    »Okay«, gab Prue leicht beklommen zurück. Sie legte die Hände auf die Holzgriffe.
    »Halt dich einfach gut fest.«
    »Ach ja?« Jetzt lachte Prue. »Hör mal, ich bin die geborene Räuberin. Vielleicht kann ich dir noch das ein oder andere beibringen.« Und damit hob sie die Füße hoch und wurde in atemberaubendem Tempo über die Lange Schlucht getragen. Der eisige Wind brannte auf Gesicht und Händen, sie spürte ihre Haut von der Kälte rot werden. Sobald die erste Angst von ihr abgefallen war, grinste sie so breit, dass ihre Wangen wehtaten.

    Es kam Elsie vor, als hätte sie gerade erst die Augen geschlossen und wäre gerade erst in einen Halbschlaf gesunken, als die Glocke laut durch den Schlafsaal dröhnte, gefolgt von einer neuen Runde verzerrtem Bellen aus dem Lautsprecher. »AUFWACHEN! GYMNASTIKÜBUNGEN ANFANGEN!« Mit einem Schlag schwirrte der Raum von den quengeligen Stimmen müder Mädchen und dem Rascheln von dreißig Wolldecken, die zur Seite geschlagen wurden. Elsie schloss sich an. Rachel allerdings hatte es nicht nur geschafft, den Befehl aus dem Lautsprecher zu ignorieren, sondern sie hatte offenbar tatsächlich einfach weitergeschlafen. Laut flüsterte Elsie: »Rachel! Wach auf!« Keine Reaktion.
    Eine kleine, ältliche Frau in einer grauen Kittelschürze kam durch die Tür. Mit einem langen Holzstock zog sie eine weiße Leinwand an der einen Wand herunter, dann nahm sie gegenüber eine Abdeckhaube von einem niedrigen Sockel, unter der ein uralt aussehender Super-8-Projektor zum Vorschein kam. Sie knipste ihn an, und ein zitternder Lichtstrahl fiel auf die Leinwand und zeigte körnige Schwarzweißaufnahmen von einer Frau in einem Turnanzug. Der Film sah sehr, sehr alt aus. Als die Gestalt auf der Leinwand sich zu bewegen begann, taten es ihr die Mädchen im Schlafsaal gleich und machten jede Übung nach. Elsie reihte sich ebenfalls ein. Die junge Frau berührte ihre Zehen, Elsie auch. Die Frau machte ein paar Hampelmänner, Elsie auch. Das Ganze dauerte etwa zehn Minuten, und der Holzfußboden vibrierte bei jedem Sprung und jedem Schritt der Mädchen. Rachel schlief immer noch, weshalb Elsie zwischen den Übungen nach dem Bettgestell ihrer Schwester trat, ohne Erfolg. Endlich war das Turnprogramm zu Ende, und der Projektor schaltete sich mit einem lauten Klackern ab. Der Lautsprecher meldete sich wieder: »BETT DREIUNDZWANZIG.«

    Keine Reaktion. Unauffällig versetzte Elsie dem Rahmen der Pritsche einen weiteren Tritt. »Rachel!«, raunte sie.
    »Mmmpf?«, machte Rachel, das Gesicht im Kissen vergraben.
    »BETT DREIUNDZWANZIG! SOFORT AUFSTEHEN!«
    Rachels Hand schlängelte sich unter der dünnen Decke hervor und tastete an der Seite herum, sehr wahrscheinlich auf der Suche nach dem nicht vorhandenen Wecker. »Mama!«, brummelte sie. »Noch zehn Minuten.« Das entlockte den umstehenden Mädchen ein Kichern.
    »MISS TALBOT?«, quakte der Lautsprecher.
    Die grauhaarige Frau, die den Projektor bedient hatte, tapste zu Rachels Bett, holte tief Luft, hob den Metallrahmen hoch und rollte Rachels schlafenden Körper auf die harten Holzdielen. Völlig desorientiert sprang das Mädchen auf. Die anderen um sie herum hatten aufgehört zu kichern und starrten jetzt auf ihre Füße.
    »MORGENMAHLZEIT UM PUNKT SIEBEN UHR. IM ANSCHLUSS MELDEN SICH ALLE ARBEITSTRUPPS IN DER FABRIK.«
    Und wie eine gehorsame Armee zogen die Mädchen im Schlafsaal sich ihre ölverschmierten Overalls über die wollenen Unterhosen. Manche unterhielten sich flüsternd mit ihrer Bettnachbarin, andere bereiteten sich schweigend auf den Tag vor. Mit offenem Mund, reglos sahen Rachel und Elsie zu, bis Martha Elsies bestrumpften Fuß anstupste.

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