Wildwood - Das Geheimnis unter dem Wald: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Inhaber behalten sich das Recht vor, in ihrem Ermessen Strafen zu verhängen, sollten sie das Kind als eine Gefahr für sich selbst oder die Allgemeinbevölkerung betrachten. Nach drei solchen Verstößen gilt das Kind als unadoptierbar, und für diesen Fall behalten sich die Inhaber das Recht vor, so ein Kind aus der Adoptivbewohnerschaft des Heims zu entfernen.« Er sah von dem Zettel auf. »Ziemlich klar eigentlich. Finden Sie nicht, Miss Mudrak?«
»Klar wie Kloßbrühe«, sagte Desdemona.
»Und hier, ganz unten, seht ihr, dass es abgezeichnet wurde von einem gewissen …« Unthank kniff die Augen fest zusammen, um die Schrift zu entziffern. »D . M. Euer Vater, nehme ich an?«
»David«, bestätigte Elsie tonlos. »Schon. Aber ich weiß wirklich nicht, was das alles bedeutet. Woher sollte er das wissen?«
»Und außerdem waren sie sehr in Eile, weil sie ihr Flugzeug kriegen mussten«, sagte Rachel. »Sie würden dem niemals zustimmen. Das werden Sie sehen.«
»Hmmm«, machte Unthank. »Das werden wir dann sehen, was? Zum Beispiel werden wir sehen, wie viel Zugkraft solche Argumente vor einem Gericht haben.« Er schüttelte das Papier kurz vor ihrem Gesicht und steckte es zurück in den Aktenschrank. Dann stellte er sich wieder vor die Mädchen und klatschte in die Hände.
»Also. Fangen wir an. Ich brauche eine Freiwillige.«
Die Mädchen schwiegen. Unthank stand jetzt neben dem Zahnarztstuhl und wischte nicht vorhandenen Staub vom Sitzpolster. »Na?«, fragte er. »Also gut.« Mit dem Zeigefinger zählte er ab: »Ene, mene, Miste.«
Die letzte Silbe fiel auf Martha. Sie holte tief Luft und sagte: »Ich bin bereit.«
»Sehr tapfer«, sagte Unthank. »Wirklich sehr tapfer. Dann setz dich doch bitte mal auf den Stuhl, damit wir anfangen können.«
Desdemona hielt Wache bei Rachel und Elsie, während Martha gehorchte. Sobald sie mit ängstlicher Miene auf dem Polster saß, schloss Unthank die Spangen an Händen und Füßen. Er lächelte entschuldigend. »Reine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte er. »Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Nicht, dass du uns wegläufst.« Nachdem er sein Versuchsobjekt auf dem Stuhl festgeschnallt hatte, lief Unthank zum Regal und inspizierte vor sich hin murmelnd den Bestand. In der Hand hielt er ein zerfleddertes schwarzes Notizbuch, blätterte emsig durch die Seiten, fuhr mit dem Finger einzelne Worte nach. Dann blickte er wieder auf, griff sich eine Handvoll Fläschchen und ging zurück zum Schreibtisch, wo er die verschiedenen Zutaten in einem Mörser zerstieß.
»Was macht er da?«, flüsterte Elsie. Sofort wurde sie von Miss Mudrak zum Schweigen gebracht.
Schließlich hatte eine glänzende, grüne Paste hergestellt (er hatte den Mörser hochgehoben und die Mischung begutachtet, und das Ergebnis, nach Elsies Einschätzung eine Art Zahnpasta in der Farbe von Rotz, schien ihn zufriedenzustellen). Damit trat er an Marthas Stuhl. »Also«, sagte er. »Das kommt jetzt in dein Ohr.«
Martha zuckte, die Augen weit aufgerissen. Sie erschauerte in ihren Fesseln. »Was ist das für ein Zeug?«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Unthank. »Nur eine Mischung aus Zimthimbeere, Tanniswurzel und Eichhörnchengalle. Mit ein bisschen Erdnussbutter als Bindemittel.«
Elsie hörte Rachel leicht würgen.
»Harmlos«, sagte Unthank. »Absolut harmlos. Aber ich habe den Verdacht, dass diese unüberwindbare Grenze, die immer wieder meine Versuchskinder verschluckt, im Kern eine biologische Funktion ist. Verabreicht man meine Paste im Gehörgang, sodass sie das Trommelfell berührt – das, wie ihr zweifellos wisst, ein Zentrum des Gleichgewichts ist und daher den Orientierungssinn bestimmt – dann müsste sie eigentlich die Fähigkeit verleihen, die Grenze zu überwinden.« Beim Sprechen strich er den Brei in Marthas Ohr. Sie blieb stumm, verzog aber das Gesicht zu einer Grimasse.
»Was für eine Grenze überhaupt?«, fragte Rachel. Desdemona wollte schon eingreifen, doch Unthank bremste sie mit erhobener Hand und antwortete.
»Sehr gute Frage.« Er kratzte noch etwas Paste aus dem Mörser. »Und meine Hauptsorge seit vielen Jahren. Ich glaube, dass wir alle seit undenklichen Zeiten annehmen, die Undurchdringliche Wildnis wäre genau das: ein überwucherter Wald, den niemand gern erforschen möchte, ganz zu schweigen davon, ihn zu erschließen. Wir alle sind mitschuldig an unserer Unkenntnis. Und wer wissbegierig genug war, um die Reise zu wagen, wurde dadurch belohnt, dass er für immer
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