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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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nasser Film, und Prues Reifen zischten über die glatte schwarze Oberfläche. Hinter ihr holperte geräuschvoll der rote Anhänger.

    Die Innenstadt von St. Johns wirkte verlassen in der Stille des frühen Morgens. Ein Schleier von mattem Blau tönte den Himmel. Ein paar Hunde hießen den neuen Tag jaulend willkommen. Ein einzelnes Auto wartete hilflos an einer schlummernden Ampel; selbst zu dieser unwirtlichen Stunde galten die alltäglichen Regeln. Am Hauptplatz kauerte sich eine gesichtslose Gestalt in Parka und Strickmütze in ein Wartehäuschen einer Bushaltestelle.
    An der alten Uhr bog Prue um die Ecke und fuhr Richtung Fluss. Die Straße endete in einer Sackgasse; eine Reihe von Betonpollern grenzte sie von einer verwilderten Wiese voller Himbeersträucher und gelb blühendem Besenginster ab. Hier stieg Prue vom Fahrrad und schob es über den Bordstein, an der Absperrung vorbei und auf die Wiese. Vor ihr, dort wo sich das Gelände auf den Rand des Kliffs zuneigte, rauschte leise der Fluss.
    Sie war noch gar nicht weit gelaufen, da gelangte sie an eine offene Stelle zwischen dem Gestrüpp. Und mitten auf dieser Lichtung lag eine große schiefergraue Steinplatte, genau wie ihr Vater es beschrieben hatte. Nur wenige Schritte davon entfernt lag die steile Böschung des Kliffs; dort fiel der Boden tief auf das grasbewachsene Ufer hinab. Ein zäher Dunst hatte sich in das Flusstal gesenkt und verbarg es vollständig. Vorsichtig legte Prue ihr Fahrrad in ein Büschel Flockenblumen, lief zu der Steinplatte, ging auf die Knie und zog das Kästchen aus ihrem Kapuzenpulli.
    Sie klappte den Deckel auf und betrachtete die sechs bunten
Kiesel und die seltsamen Inschriften auf ihrer glatten Oberfläche. »Äh«, flüsterte sie vor sich hin, »ich bin nicht sicher, ob ich vielleicht was sagen muss, aber …« Sie schüttete die Steine auf die kalte, harte Platte. »Abrakadabra? Sesam, öffne dich?«
    Die Kiesel kreiselten und drehten sich auf dem flachen Stein, bis schließlich ein jeder zur Ruhe kam und die nach oben zeigenden fremdartigen Symbole ein merkwürdiges Muster bildeten. Prue hielt den Atem an und wartete. Eine jähe Brise zauste das Gebüsch um sie herum.
    Vom Fluss her hörte Prue mit einem Mal ein deutliches metallisches Ächzen, das uralte Seufzen von hunderttausend Tonnen sich zusammenfügenden Metalls und Eisens.
    Als sie den Blick hob, hatte sich der Nebel über dem Fluss zu einer dichten Wolke geballt; sie ragte über ihm auf und verdeckte das blasse Blau des Morgenhimmels. Langsam tauchten Umrisse aus der Wolke auf: ein weit entfernter grüner Bogen, ein gewaltiges Seil. Allmählich löste der Nebel sich auf und enthüllte mehr und mehr von diesem verborgenen Gebilde, bis eine gewaltige Brücke vor Prue lag, die den Abstand vom Kliff bis zum anderen Ufer überspannte. Unterbrochen wurde ihre enorme Länge von zwei breiten Türmen, die jeweils an die hundert Meter hoch und mit kathedralenähnlichen Bögen unterschiedlicher Größe verziert waren. Auf beiden Seiten verbanden baumstammdicke Seile die Turmspitzen mit der Brücke.

    Prue sah sich rasch um, ob irgendjemand außer ihr dieses Schauspiel miterlebte, doch sie war allein in der kühlen Morgendämmerung. Immer weiter sank der Nebel von der Brücke herab, bis er sich unmittelbar darunter angesammelt hatte und das beeindruckende Bauwerk in seiner Gesamtheit freigab. Der Fluss lag weiterhin im Dunst. Zufrieden legte Prue die Runensteine in das Kästchen zurück, schloss den Deckel, hob ihr Fahrrad auf und schob es auf die Geisterbrücke.
    Zwei Laternenpfähle markierten den Anfang der Brücke und verströmten ein gespenstisches Licht. Prue machte vorsichtig einen Probeschritt, um die Oberfläche zu testen, bevor sie sich weiter vorwagte: Sie hielt ihrem Gewicht stand. Ja, dieses »Geister«-Pflaster fühlte sich nicht mal anders an als richtiges Pflaster. Zuversichtlich lief Prue weiter, während das Klappern des Fahrrads und des Anhängers das einzige Geräusch war, das die Stille des Morgens störte.
    Als sie die Mitte erreichte, entdeckte sie eine Messingglocke, die an einem kleinen Haken hing. Neugierig näherte sich Prue der Glocke; das Metall war stark angelaufen, es hatte eine grau-grüne Farbe und war ganz schlicht geschmiedet. Am Klöppel hing eine Lederschnur.
    Instinktiv hob Prue die Hand und legte sie um die Schnur. Sie stellte sich vor, wie ihre Eltern hier vor dreizehn Jahren standen, die Herzen brennend vor Angst und Neugier und der

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