Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
Vom Netzwerk:
»Macht euch bereit«, sagte er. »Heute Nacht brechen wir auf.«
    Sofort rannten alle zum Lager. Nur Curtis blieb zurück. Tief in Gedanken versunken stand er reglos vor dem Schieferstoß. Wieder drückte er sich die Hand an den Mund und saugte an dem kleinen Schnitt. Als er den Arm wegzog, um die Wunde zu betrachten, hörte er sich sagen: »Was habe ich da gerade getan?«

    Ein bitterkalter Wind heute, dachte Alexandra, als sie ihr Pferd über die dunklen Planken der Brücke lenkte. Das Zaumzeug des Hengstes klirrte. Vor ihr erstreckte sich das Meer von Soldaten bis ins Unendliche, die Schritte der zahllosen Stiefel trommelten einen gleichmäßigen Rhythmus vor dem schweigenden Wald. Diese Brücke, dachte sie, wird verschwinden, wenn der Efeu kommt. Diese uralte Brücke. Wie lange überspannt
sie schon die Schlucht? Schon lange vor der Svik-Dynastie, noch bevor die Mystiker Südwald den Rücken kehrten. Der letzte unzerstörte Überrest der großartigen Zivilisation der Ahnen, die hölzernen Planken von Magie durchwirkt. Doch ebenso wie die Ahnen niedergingen, so werden es auch die Thronräuber von Südwald.
    Und wie sie stürzen werden, dachte sie, wie sie um Vergebung flehen werden. Kleiner Lars, törichter Neffe meines Geliebten. Welche Frechheit, zu glauben, er könnte meine Nachfolge antreten. Könnte die Nachfolge meines Engels Alexei antreten. Und mich in die eiskalte Verbannung schicken. Er wird als Erster bezahlen.
    Die Baumkronen ächzten im Wind, totes Laub rieselte wie Schnee auf die ordentlichen Zweierreihen uniformierter Soldaten herab. Das Kind auf ihrem Arm strampelte und gluckste.
    So werde ich ihnen endlich ihre Unverschämtheit vor Augen führen, dachte sie.
    Genau so.

    Prue schreckte aus dem Schlaf. Sie hatte einen Traum gehabt: Ein leiser Glockenton erklang, und sie stand auf einer großen Brücke. Sie versuchte, auf die andere Seite zu laufen, aber die hölzerne Oberfläche verschwand unter ihren Füßen und sie stürzte in das rauschende Wasser darunter. Diese Empfindung zerrte sie aus ihrem tiefen Schlaf. Ein zerknautschtes Grasbüschel hatte einen Abdruck dünner Linien auf ihrer Wange hinterlassen, und ihre Kleider fühlten sich feucht an von dem kalten Tau, der auf der Wiese lag. Es war dunkel. Der Mondschein glimmte hinter einer breiten Wolkendecke, Dunstschleier hingen in den hohen Wipfeln am Rande der Lichtung. Prue setzte sich auf, wischte sich den Schlaf aus den Augen und sah zum Ratsbaum. Mehrere Fackeln waren um die Wiese herum angezündet worden und warfen flackernde Schatten auf den Boden. Neben dem Baum war einer der Mystiker aufgestanden und strich mit einem Holzstab über die Innenseite einer Messingglocke, was ein lang anhaltendes Läuten hervorrief – es war genau der Ton aus Prues Traum. Auf dieses Signal hin erhoben sich die Meditierenden aus dem Kreis.

    Atemlos beobachtete Prue, wie Iphigenia sich regte und die Augen aufschlug. Sogleich ließ die Älteste Mystikerin den Blick über die Wiese schweifen, und als sie Prue entdeckt hatte, kam sie auf sie zu. Prue sprang auf und rannte ihr entgegen.
    »Mädchen«, begann Iphigenia, noch bevor sie Prue erreicht hatte, »mein liebes Mädchen, wir haben etwas zu erledigen.«
    »Was denn?«, fragte Prue. »Wovon sprichst du? Was hat der Baum gesagt?«
    »Ein großes Unrecht wird geschehen«, sagte die Mystikerin, und die frühere Leichtigkeit in ihrer Stimme war verschwunden. »Eine Bedrohung für jedes Lebewesen des Waldes.«
    »Was ist denn los? Hat er etwas über meinen Bruder gesagt?«
    Iphigenia sah Prue in die Augen. »Ach, meine Liebe«, sagte sie, »ich fürchte, die Nachrichten sind sehr schlecht.« Sie ergriff Prues Hand. »Der Ratsbaum ist das Fundament des Waldes, seine Wurzeln sind mit jedem Zentimeter Erde unter unseren Füßen verflochten, von Norden bis Süden. Und daher spürt er jede Unruhe, jede Störung im Gefüge des Waldes, vom Umstürzen einer uralten Eiche bis hin zum Flattern eines Mottenflügels. Schon seit geraumer Zeit fühlt er, dass der Efeu erwacht ist. Etwas hat seinen Schlaf unterbrochen. Jetzt ist es klar; der Efeu dürstet nach Blut. Eine große Armee marschiert zum Hain der Ahnen, dem zerstörten Herz einer längst untergegangenen Zivilisation, wo die Wurzel des Efeus schläft. An der Spitze des Heeres reitet die verbannte Gouverneurin, und bei
sich hat sie ein menschliches Kind, einen Mischling aus der Außenwelt wie dich.«
    Prue sah sie mit großen Augen an. »Was hat sie

Weitere Kostenlose Bücher