Wilhelm II.
Dr. Paul Kayser, der die Erlasse heimlich für Wilhelm entworfen hatte: «Es wird noch besser kommen», die Presse stehe «noch staunend vor der Tatsache, wie der Reisende auf dem Alpenberg, wenn der Nebel birst und die leuchtende Landschaft im Tal das Auge blendet.» Waldersee frohlockte zu sehen, «wie der Kaiser der Herr geblieben und den Kanzler überwältigt hat». Beflügelt von dem vermeintlichen Erfolg seiner Erlasse sowie der internationalen Arbeiterschutzkonferenz, die er gegen den Protest Bismarcks einberufen hatte, glaubte der Kaiser, fortan rücksichtsloser mit dem Kanzler umgehen zu können.
Gleichzeitig fielen die Reichstagswahlen aber so nachteilig aus, daß sich die Stellung des Reichskanzlers wieder zu festigen schien. Die drei Kartellparteien verloren haushoch, mit 106 Mandaten wuchs der Zentrumspartei im Parlament eine ausschlaggebende Rolle zu, und mit fast anderthalbmillionen Wählern wurde die republikanisch-marxistische SPD stimmenmäßig die stärkste Partei im Reich. War dies wirklich der Zeitpunkt, den Reichsgründer zu entlassen, die Macht in die Hände eines unerprobten jungen Kaisers zu legen? Rufe nach einem Staatsstreich zur Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts wurden auch im kaiserlichen Lager laut, doch dort erkannte man sogleich, daß durch eine Gewaltpolitik die sozialpolitische Initiative Wilhelms II. zum Gegenstand des Spottes geraten würde. Schlimmer noch: Bismarck würde unentbehrlich werden und somit doch noch als Sieger aus dem Konflikt mit der Krone hervorgehen. Als der Kanzler erst von einem verschärften Sozialistengesetz und dann von einer riesigen Armeevorlage sprach, die beide für den neuen Reichstag unannehmbar sein würden, schreckten die Kaiserfreunde auf: Dieser Plan Bismarcks sei «dermeisterhafteste im ganzen Schachspiel; er bedeutet: König matt». Mit seiner Politik der Provokation und Verwirrung wolle Bismarck den sozialen Frieden, die Vorherrschaft Preußens im Reich und das Bündnis mit Österreich-Ungarn und Italien in Frage stellen, alles mit dem Ziel, den Monarchen für immer zu entmachten und seine eigene Kanzlerdiktatur zu verewigen.
Am 12. März 1890 schlug die Nachricht wie eine Bombe ein, der Reichskanzler habe mit Ludwig Windthorst, dem Führer der katholischen Zentrumspartei, über einen weiteren Abbau des Kulturkampfes verhandelt. Die Wut Wilhelms wuchs ins Unermeßliche, als ihm hinterbracht wurde, das Treffen mit Windthorst sei durch die Vermittlung Bleichröders zustande gekommen. In der Kombination Bismarck – Windthorst – Bleichröder erblickte er die Bestätigung der ihm von Waldersee seit längerem suggerierten Wahnvorstellung, unter Bismarck würde das Deutsche Kaiserreich insgeheim von Juden beherrscht! In den Verhandlungen des Kanzlers mit dem Zentrumsführer sah er «ein Zusammengehen der Jesuiten mit den reichen Juden».
Nun war das Faß zum Überlaufen voll. Am frühen Morgen des 15. März 1890 ereignete sich eine der gewaltigsten Szenen, die sich je in der Berliner Wilhelmstraße abgespielt haben. Kaiser Wilhelm II. holte den fünfundsiebzigjährigen Reichskanzler aus dem Bett und warf ihm vor, Windthorst empfangen zu haben. Ferner beanstandete er, Bismarck habe eine alte vergilbte Ordre aus dem Jahr 1852 hervorgeholt, welche den Monarchen daran hindere, die Minister ohne Beisein des Ministerpräsidenten zu empfangen; ultimativ forderte er die Rücknahme der Ordre, was Bismarck verweigerte. Später erzählte Wilhelm, Bismarck sei ihm gegenüber «so gewalttätig» geworden, daß er befürchten mußte, der Kanzler würde ihm «das Tintenfaß an den Kopf werfen». Nach dieser dramatischen Auseinandersetzung drängte Waldersee den Kaiser im Beisein des Chefs des Militärkabinetts, General von Hahnke, den Reichskanzler umgehend zu feuern. Der jetzige Zustand sei «ganz unhaltbar», und außerdem sei der Kanzler «mit der Judenschaft zu sehr liirt». Mehrmals schickte Wilhelm erst Hahnke und dann den Chef des Zivilkabinetts, Hermann von Lucanus, zum Kanzler mit demBefehl, sein Abschiedsgesuch einzureichen, was dieser schließlich am 18. März 1890 auch tat. Wenn Waldersee erwartet hatte, Bismarcks Nachfolge anzutreten, was anzunehmen ist, so erlebte er freilich eine bittere Enttäuschung: An jenem Abend verkündete Kaiser Wilhelm II. den im Schloß versammelten Kommandierenden Generälen, er hätte, «um Herr zu bleiben», dem Reichskanzler «ein Ultimatum zur Unterwerfung stellen müssen». Er werde Bismarcks
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