Wilhelm II.
Erfahrungen Europas hinwegsetzte, hatte er am Hofe der Hohenzollern der Herrscherwillkür, der byzantinischen Günstlingswirtschaft und dem überbordenden Militarismus Tür und Tor geöffnet. Mochte auch die «Persönliche Monarchie» in Bismarcks Augen nichts weiter als eine legale Fiktion gewesen sein – Wilhelm II. nahm sie wörtlich und verstand das monarchische Prinzip von Gottes Gnaden als Legitimierung seiner Eigenherrschaft.
Seiner geradezu schwindelerregenden Vorstellung von seiner Rolle als Kaiser und König zufolge war er der Mittler zwischen Gott und seinem Volke: Er empfange von Gott seine Weisungen und sei in seiner «Gottesgebundenheit» verpflichtet, die göttlichen Ratschlüsse gegen jedwede Kritik auszuführen. Allen Ernstes behauptete er, gekrönte Häupter wie er hätten die angeborene Gabe des Hellsehens, die allen normalsterblichen Staatsmännern abging. Ein Monarch, der sich von der Verfassung oder vom Parlament einschränken ließ, verdiene nur Verachtung. «Ich bin gewohnt, daß mir gehorcht wird», verkündete er 1890 kurz vor der Entlassung Bismarcks. «Ein Kaiserwort soll man nicht drehen oder deuteln.» Sein quasiabsolutistischer Machtanspruch spiegelte sich in zahlreichen Reden und in den Porträts wider, die ihn in martialischer Pose mit Feldmarschallstab und herausforderndem Blick darstellten. Es gab kaum ein Gebiet, auf dem sich Wilhelm II. nicht berufen fühlte, besserwisserisch einzugreifen. Zu einem Zeitpunkt, zu dem Nietzsche und Ibsen den Tod Gottes verkündet hatten, schreckte die Öffentlichkeit – und nicht nur die in Deutschland – angesichts solch anachronistischer Herrscherallüren auf. «Der Herr flößt aller Welt Angst ein», stellte Holstein fest. Sogar in der Hohenzollernfamilie wurde gemunkelt, Wilhelm II. sei zu spät auf die Welt gekommen; eigentlich gehöre er in ein früheres Jahrhundert.
Unter dem alten Kaiser Wilhelm I. war es Bismarck letzten Endes stets gelungen, seinen Willen durchzusetzen. Mit der Thronbesteigung des ungestümen Enkels, durchdrungen vonseinem Gottesgnadentum und im stillen beeinflußt von ehrgeizigen Generälen wie Waldersee und schwärmerischen Ästheten wie Eulenburg, sollte das bald anders werden. Ein Kampf um die Macht mit dem fünfundsiebzigjährigen, machtgewöhnten Reichskanzler Fürst von Bismarck war nur noch eine Frage der Zeit.
Bismarcks Sturz (1889–1890)
An Warnzeichen hatte es bereits vor der Thronbesteigung nicht gefehlt. Zum Bruch zwischen Hohenzollernprinz und Reichskanzler war es bereits im November 1887 gekommen, als Wilhelm im Hause Waldersees an einer Versammlung zugunsten der Stadtmission des «christlich-sozialen» (sprich: antisemitischen) Hofpredigers Adolf Stoecker teilnahm und Bismarck sich veranlaßt sah, ihn für diese für einen Anwärter auf die Kaiserkrone besonders unangebrachte Identifikation mit der reaktionären urpreußischen Kreuzzeitungsfronde zu rügen. Zur gleichen Zeit sandte Wilhelm dem Kanzler einen von ihm verfaßten Erlaß an «die deutschen Reichsfürsten» zu, den er bei seiner Thronbesteigung jedem seiner «Collegen» zu überreichen gedachte, damit «die alten Onkels» ihm – dem Kaiser «von Gottes Gnaden» – auch gehorchen würden. «Denn parirt muß werden!» erklärte Wilhelm in dem schnoddrigen Gardeleutnantsjargon, den er sich in Potsdam angewöhnt hatte und den er zeitlebens beibehielt. Bestürzt drängte Bismarck, das fatale Schriftstück sofort zu verbrennen.
Schlimmer noch als diese Infragestellung der föderalistischen Fundamente des Bismarckschen Reichsbaus war die Unterminierung der Friedenspolitik des Kanzlers. Seit Herbst 1887 hatte sich der Preußenprinz zum Fürsprecher der Kriegspartei um den Stellvertretenden Generalstabschef Waldersee gemacht und auf ein sofortiges Losschlagen gegen Rußland und Frankreich gedrängt. Am 17. Dezember 1887 ging er so weit, an einem «Kriegsrat» der Generäle um den alten Kaiser teilzunehmen, der sich für den Angriffskrieg aussprach. Empört klagte der Reichskanzler im Mai 1888: «Der junge Herr will den Krieg gegen Rußland, möchte womöglich gleich das Schwert ziehen.Das mache ich nicht mit.» Vier Wochen vor der Thronbesteigung Wilhelms II. rief Bismarck aus: «Wehe meinen Enkeln.»
Trotz solch düsterer Vorahnungen besserte sich Wilhelms Verhältnis zur Kanzlerfamilie nach dem Thronwechsel am 15. Juni 1888 vorübergehend. Um dem jungen Monarchen «nicht lästig zu fallen», zog sich der Reichskanzler nach
Weitere Kostenlose Bücher