Wilhelm II.
seiner anachronistischen Herrschaftsweise und seiner reaktionären Ansichten befand sich Wilhelm auf Kollisionskurs mit seinem eigenen Volk.
Der Reformeifer, den der Kaiser bei seiner Thronbesteigung an den Tag gelegt hatte, war längst verflogen. Der von Hinzpeter und Paul Kayser inspirierte sozialpolitische Kurs, der in den vorbildlichen Erlassen vom Februar 1890 gegipfelt hatte, kam rasch zum Erliegen, als die erhoffte Wirkung – die Entfremdung der Arbeiterschaft von der Sozialdemokratie – nicht eintrat. 1891 erschreckte der Kaiser die Welt mit einer Ansprache in Potsdam, in der er jungen Rekruten zurief, er könne auch einmal befehlen, «daß ihr eure eignen Verwandten und Brüder niederschießen und -stechen müßt». Seit 1894 drängte Wilhelm gegen den entschiedenen Widerstand Caprivis, Marschalls und Holsteins auf eine gewaltsame Unterdrückung der «Parteien des Umsturzes» – das heißt vor allem der Sozialdemokratie – mittels eines Staatsstreichs zur Abschaffung des allgemeinen Reichstagswahlrechts. Die 1894 von ihm geforderte «Umsturzvorlage» scheiterte kläglich im Reichstag. 1898 verlangte Wilhelm in einem Trinkspruch auf dem Manöverfeld die Zuchthausstrafe für jeden, der zum Streik aufrief oder einen Arbeitswilligen an der Arbeit hinderte. Auch diese auf Befehl des Kaisers eingebrachte «Zuchthausvorlage» wurde vom Parlament mit großer Mehrheit verworfen. Um die Jahrhundertwende prahlte er: «Ehe nicht die sozialdemokratischen Führer durch Soldaten aus dem Reichstag herausgeholt und füsiliert sind, ist keine Besserung zu erhoffen.» Als die Berliner Trambahner1900 in den Streik traten, telegraphierte der Monarch dem Stadtkommandanten: «Ich erwarte, daß beim Einschreiten der Truppe mindestens 500 Leute zur Strecke gebracht werden.» 1901 mahnte er das in der Nähe des Schlosses kasernierte Alexander-Regiment, es müsse «gewissermaßen als Leibwache Tag und Nacht bereit […] sein, um für den König und sein Haus, wenn’s gilt, Leben und Blut in die Schanze zu schlagen». Zwei Jahre darauf drohte er damit, «Rache» für die Revolution von 1848 zu nehmen: Er würde alle Sozialdemokraten zusammenschießen, aber erst, nachdem sie «ordentlich Juden und Reiche geplündert» hätten. Im Reichstag sprach August Bebel, der Führer der inzwischen enorm angewachsenen SPD, von dem «Haß» seiner Partei «gegen die Person des Kaisers» und konstatierte, jede derartige Kaiserrede bringe der Arbeiterpartei rund 100.000 Stimmen Gewinn. Vom «sozialen Kaisertum» war keine Spur mehr zu finden. Aber auch das katholische Deutschland beschimpfte der Kaiser mit «wutschnaubenden» Tiraden; der Katholizismus, so soll er 1901 geschrieben haben, sei ein «Aberglaube, den auszurotten ich mir zur Lebensaufgabe gesetzt habe».
In der Bildungspolitik und in der Beförderung technischer Innovationen zeigte sich Wilhelm II. dagegen erstaunlich fortschrittlich. In eigentümlicher Weise verband er die höfische Kultur des Absolutismus und eine klassenkämpferische Einstellung zu Millionen seiner Untertanen einerseits mit einer wahren Begeisterung für die moderne Welt des technischen Fortschritts andererseits. Hinzpeter stand dem Kaiser im Hintergrund beratend zur Seite, als dieser 1890 und wieder 1900 Schulkonferenzen einberief, die eine Reform der Gymnasien in Preußen einleiteten. In Hinzpeters Fußstapfen als kaiserlicher Berater in bildungspolitischen Fragen trat später der Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek, Adolf (von) Harnack, mit dessen Beistand Wilhelm II. 1911 die berühmte Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die heutige Max-Planck-Gesellschaft, gründete. Das waren gewiß bewundernswerte Taten, die von den Apologeten des Kaisers immer wieder und zu Recht lobend hervorgehoben werden. Verglichen mit den horrenden innen- und außenpolitischenDefiziten seiner Herrschaft fallen sie aber kaum ins Gewicht.
Der Kanzler als Höfling: Das faule System Bülow (1897–1909)
Im Sommer 1897 ernannte Wilhelm II. zwei in ihrem Charakter völlig unterschiedliche Männer zu hohen Amtsträgern, die den Zwiespalt in seiner Persönlichkeit verkörperten und die die mittleren Jahre seiner Regierungszeit wesentlich mitbestimmen sollten. Gemeint sind zum einen der machiavellistische Höfling Bernhard von Bülow, den der Kaiser zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes machte und der 1900 (wie längst beabsichtigt) zum Reichskanzler aufsteigen sollte, und zum anderen der machtbewußte Technokrat und
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