Wilhelm II.
gefährden. Klar ist nur, daß ein solches System des faulen Zaubers des deutschen Volkes unwürdig und den Ansprüchen der spannungsgeladenen Weltlage im beginnenden 20. Jahrhundert kaum gewachsen war.
III. Der uferlose Weltpolitiker (1896–1908)
Die Herausforderung Europas: Weltmacht- und Flottenpolitik
Sehr bald nach der Reichsgründung hatte Bismarck erkennen müssen, daß er mit seinen drei Einigungskriegen gegen Dänemark 1864, Österreich 1866 und Frankreich 1870/71 die äußerste Grenze dessen erreicht hatte, was für das europäische Staatensystem hinnehmbar war. Indem er weitgehend auf den Erwerb von Kolonien verzichtete und gleichzeitig die übrigen Großmächte Europas (England, Frankreich, Österreich-Ungarn und Rußland) zur imperialistischen Expansion ermunterte, war es ihm einigermaßen gelungen, deren Rivalitäten fern von Deutschland an die Peripherie abzulenken, wo sie miteinanderin Konflikt gerieten. Eine derartige Zurückhaltung war dem jungen, tatendurstigen, geltungssüchtigen und stark gemütsbewegten Wilhelm II. gänzlich fremd. Seine Verehrung für seine dynastischen Vorfahren – vor allem für den Soldatenkönig, für Friedrich den Großen und seinen eigenen Großvater – drückte sich nicht nur in seiner Entschlossenheit aus, die Rechte seiner Krone nach der langen Kanzlerdiktatur Bismarcks wieder vollauf zur Geltung zu bringen; seine Identifikation mit den kriegerischen Hohenzollernhelden von einst bedeutete ihm auch eine Verpflichtung, Preußen-Deutschland zu neuer Größe zu führen. Zum hundertjährigen Geburtstag seines Großvaters am 22. März 1897 rief er aus, Bismarck und der Generalfeldmarschall Graf von Moltke seien nichts als «Handlanger und Pygmäen» seines Großvaters gewesen, nicht sie, sondern «Kaiser Wilhelm der Große» habe Preußen vergrößert und zum Kernstaat des Deutschen Reiches gemacht – und so wollte er das Deutsche Reich zum Mittelpunkt eines geeinten Europas führen.
In einem giftigen Gebräu aus Ahnenkult, Gottesgnadentum, Militarismus und Rassismus hielt Wilhelm II. an der Idee fest, als Instrument des Herrn dazu berufen zu sein, das deutsche Volk – das Salz der Erde – herrlichen Zeiten entgegenzuführen. In der Menschheitsgeschichte zeige sich der Wille Gottes in dem Auf- und Abstieg der von gekrönten Häuptern geleiteten Völker. Die «weiblichen» lateinischen und slawischen Rassen seien degeneriert, die Zukunft gehöre den «männlichen» protestantisch-christlichen Germanen. Am 22. März 1905 – wieder mal dem Geburtstag seines Großvaters – erklärte er anläßlich der Einweihung eines Denkmals für seinen Vater in Bremen: «Das Weltreich, das ich Mir geträumt habe, soll darin bestehen, daß vor allem das neugeschaffene Deutsche Reich von allen Seiten das absoluteste Vertrauen als eines ruhigen, ehrlichen, friedlichen Nachbarn genießen soll, und daß, wenn man dereinst vielleicht von einem deutschen Weltreich oder einer Hohenzollernweltherrschaft in der Geschichte reden sollte, sie nicht auf Eroberungen begründet sein soll durch das Schwert, sondern durch gegenseitiges Vertrauen der nach gleichen Zielen strebenden Nationen.» Diese angeblich friedliche «deutsche Mission»hatte er schon bald nach seiner Thronbesteigung seinem Freund Eulenburg mit den Worten anvertraut: «Ich hoffe, daß Europa allmählich den Grundgedanken meiner Politik durchschauen wird: Die Führung im friedlichen Sinn – eine Art Napoleonische Suprematie.» Ähnlich verkündete Wilhelm im Februar 1894 im preußischen Staatsministerium: «Unsere Suprematie sei nicht nur durch unser Heer, sondern auch durch die Handelspolitik Europa vor Augen zu führen.» Und im Juli 1895 versicherte er dem Kronprinzen von Schweden und Norwegen: «Mein ganzes Dichten und Trachten und meine ganzen Gedanken in der Politik sind darauf gerichtet, die germanischen Stämme in der Welt, speziell in Europa fester zusammen zu führen und zu schmieden.»
So sprunghaft der «Zickzackkurs» der wilhelminischen Außenpolitik im Rückblick auch erscheint, die Leitidee Wilhelms II. blieb über Jahrzehnte hinweg der Zusammenschluß des monarchisch verfaßten europäischen Festlands unter deutscher Vorherrschaft. Ob diese deutsche Suprematie in Europa auf friedlichem Wege zu erreichen sein würde, war allerdings mehr als fraglich, denn nicht nur Rußland und Frankreich, die seit 1894 miteinander verbündet waren, sondern letzten Endes auch die ozeanische Weltmacht Großbritannien
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