Wilhelm II.
Entschlossenheit der Briten als auch ihrer Möglichkeit, Verbündete zu finden. Mit dem Abschluß der Allianz mit Japan 1902 und der Entente cordiale mit Frankreich 1904 konnte Großbritannien seine Schiffe aus dem Fernen Osten und dem Mittelmeer in die Heimat zurückführen. Damit war die Tirpitzsche Rechnung schon geplatzt, denn gegen die vereinten Seemächte England, Japan und Frankreich – und nach 1907 auch Rußland – hatte die deutsche Flotte keine Chance. Dennoch hielt Kaiser Wilhelm am forcierten Schlachtflottenbau fest und drohte den Engländern offen mit Krieg, sollten sie in ihrer «bodenlosen Unverschämtheit» fortfahren, eine Verlangsamung des Bautempos zu fordern. «Nein! 3 mal Nein!» rief er aus. Für Bülow als verantwortlichen Leiter derdeutschen Außenpolitik wirkte der Schlachtflottenbau wie ein eisernes Korsett, das seine Bewegungsfreiheit stark einschränkte, doch selbst wenn er gewollt hätte, würde er nie gewagt haben, das Lieblingsspielzeug des Kaisers in Frage zu stellen.
Die größte Gefahr für die grandiosen Pläne Wilhelms II. bildete die stets gegebene Möglichkeit der Engländer, die kaiserliche Flotte in einem Präventivschlag zu versenken, noch ehe sie eine kritische Masse erreichte. Beim Durchschreiten dieser «Gefahrenzone» betonte der Kaiser besonders innig seine Liebe für England und seine enge Verwandtschaft mit dem britischen Königshaus als ältester Enkel der Queen Victoria – getreu dem Motto, wie er zynisch bemerkte, daß Blut dicker sei als Wasser. «Ich bin der Einzige, der die Engländer noch hält, sonst brechen sie vorzeitig los und meine Flotte ist nicht fertig», erklärte er 1902, sein ganzes Konzept verratend. Was aber gedachten Wilhelm und seine Admirale zu tun, wenn die Engländer doch «vorzeitig» losschlagen sollten? In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts arbeitete der Admiralstab mit dem ausdrücklichen Einverständnis des Obersten Kriegsherrn an dem Plan, Dänemark zu besetzen und Kopenhagen zu belagern. Sein Kalkül war, daß die britische Öffentlichkeit diese Vergewaltigung des kleinen neutralen Staates nicht würde hinnehmen können. Die Royal Navy würde sich gezwungen fühlen, ein Geschwader zum Entsatz der dänischen Hauptstadt abzuzweigen, wo es von der in den Belten und im Sund wartenden deutschen Hochseeflotte versenkt werden würde. Daraufhin sollte sich die kaiserliche Marine die restlichen Verbände der Navy in der Nordsee vornehmen. Dieser absurde Plan wurde erst im Februar 1905 aufgegeben, als der Generalstab unter Schlieffen darauf hinwies, daß die beiden Armeekorps, die die Marine für die Invasion Dänemarks vorgesehen hatte, doch für den Angriffskrieg auf Frankreich gebraucht werden würden. Nach der Entente cordiale zwischen London und Paris sei ein Krieg «gegen England allein» auszuschließen.
Der Russisch-Japanische Krieg und das Kaisertreffen auf Björkö (1904–1905)
Ohne eine Lösung des strategischen Dilemmas im Westen erreicht zu haben, blieb die Ambition eines Durchbruchs zur Hegemonie in Europa sowie das Liebäugeln mit einem grandiosen Kolonialreich irgendwo in Übersee vorerst reine Zukunftsmusik. Doch mit dem Abschluß des Bündnisses zwischen England und Japan 1902 war Bewegung in das internationale Staatensystem gekommen, die dem Kaiser über seine russischen Verwandten im Osten einen dramatischen Erfolg zu verheißen schien. Er selbst hatte die Heirat zwischen Zar Nikolaus II. und seiner (Wilhelms) Kusine Alicky von Hessen-Darmstadt, die als Zarin den Namen Alexandra trug, gestiftet, und sein Bruder Heinrich war mit Irene, der jüngeren Schwester Alexandras, verheiratet. Seit «Nickys» Thronbesteigung 1894 hatte «Willy» in englischer Sprache und ohne Mitwissen des Reichskanzlers oder des Auswärtigen Amtes mit ihm eine hochpolitische Korrespondenz geführt, die die Welt schockierte, als sie 1918 von den Bolschewisten veröffentlicht wurde. Der «Willy-Nicky-Briefwechsel» nahm 1902 an Intensität zu. Wilhelm II. verfolgte unverhohlen das Ziel, den Zaren durch die Versicherung deutscher Rückendeckung in einen Krieg mit Japan zu verwickeln. Gelänge dies, so sein Kalkül, wäre Rußland auf lange Zeit im Fernen Osten gebunden, Frankreich damit auf dem Festland isoliert und die deutsche Vormachtstellung auf dem ganzen eurasischen Kontinent so gut wie gesichert.
Nie schienen die Chancen eines Durchbruchs zur Weltmachtstellung greifbarer als in den Jahren 1902 bis 1905. In seinen Briefen und Depeschen
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