Wilhelm II.
dem Kaiser zu diesem Zeitpunkt der Krieg im Westen vorkam, zeigt ferner die Tatsache, daß er im Februar 1904 den ungeheuerlichen Schritt unternahm, der niederländischen Königin Wilhelmina heimlich seine Absicht mitzuteilen, im Kriegsfall die gesamte holländische Küste mit Beschlag zu belegen, um dort eine Landung britischer Truppen zu verhindern.
Vor diesem spannungsgeladenen Hintergrund ist es verständlich,daß das plötzliche Erscheinen des Deutschen Kaisers vor der internationalen Hafenstadt Tanger auf der marokkanischen Seite der Straße von Gibraltar am 31. März 1905 auf die ganze Welt wie eine Herausforderung wirkte. Der Besuch löste eine schwere Krise aus, die die Mächte erstmals an den Rand eines großen Krieges brachte. König Edward VII. war der Überzeugung, daß Wilhelm mit seinem Ritt durch Tanger tatsächlich die Absicht verfolgte, einen Krieg zu provozieren, und betrachtete fortan seinen Neffen als den gefährlichsten Feind, den England überhaupt hatte. Deutsche Diplomaten beschuldigten die Hofmilitärs um Wilhelm, diesen an einen Punkt gedrängt zu haben, «der Nahe am Krieg war». Andere wiederum gaben Bülow und vor allem dem Geheimrat von Holstein die Schuld, den widerstrebenden Kaiser zu der provokanten Landung überredet zu haben.
Die Quellenlage ist lückenhaft, und die Historiker sind sich deswegen uneins, klar ist aber, daß Holstein, von Bülow gedeckt und in Tuchfühlung mit Schlieffen, als eigentlicher Architekt der deutschen Marokkopolitik gelten muß. Wenn er es auch nicht direkt auf einen Krieg in Westeuropa unter vermeintlich günstigen Bedingungen abgesehen hatte, so befolgte der spitzfindige Geheimrat in der Ersten Marokkokrise doch einen unnachgiebigen Kurs, wobei er die Möglichkeit, wenn nicht gar die Wahrscheinlichkeit eines Krieges mit Frankreich (und England) bewußt einkalkulierte. Frankreich sollte vor die Wahl gestellt werden, sich Deutschland vertraglich anzuschließen oder den Einfall der preußisch-deutschen Armee zu gewärtigen. Nicht territorialer oder kommerzieller Gewinn in Nordafrika war das Ziel, sondern die erzwungene Abspaltung Frankreichs von seinem neuen Ententepartner Großbritannien. Da die französische Republik auf absehbare Zeit ohne Unterstützung seines Bündnispartners Rußland sein würde, käme eine Kapitulation vor der deutschen Kriegsdrohung der faktischen Anerkennung der Suprematie Deutschlands auf dem Kontinent gleich. Daß dieses schwindelerregende Wagnis überhaupt nur gelingen würde, wenn die Drohung mit dem Krieg wirklich ernst gemeint und bis zuletzt auch glaubhaft durchgehalten wurde, liegt aufder Hand. Und gerade an dieser Stelle gab es im Hasardspiel Holsteins einen unkalkulierbaren Unsicherheitsfaktor – den Kaiser.
So aggressiv und kriegslustig sich Wilhelm II. nach dem Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges auch gebärdete, die Gefahren eines Krieges gegen die beiden Großmächte im Westen verkannte er keineswegs. Weder die Armee noch erst recht die Flotte waren kriegsbereit, und gegen einen Angriffskrieg, das wußte er auch, würde sich die eigene Bevölkerung auflehnen. Der Kriegsminister von Einem setzte dem Obersten Kriegsherrn zudem auseinander, daß die deutsche Feldartillerie der französischen unterlegen sei. Der Kaiser geriet in Panik, als ein englischer Admiral mit der Versenkung der noch lange nicht fertiggestellten deutschen Schlachtflotte drohte. Wütend reagierte er auf Presseberichte, wonach die Engländer bei Kriegsausbruch ein Expeditionskorps von 100.000 Mann auf dem Kontinent zu landen beabsichtigten. Er monierte, daß die Haltung, die die Verbündeten und die neutralen Staaten in einem Konflikt in Westeuropa einnehmen würden, alles andere als geklärt sei. Weit entfernt war man auch von der Realisierung seiner Lieblingsidee, die islamische Welt unter sein Kommando zu stellen. Schließlich kam hinzu, daß Bülow ihn darauf hinwies, daß Schlieffen zu alt sei, um einen großen Krieg zu führen. Im stillen freilich fiel dem Reichskanzler, wie ein Zeitgenosse festhielt, «das Herz in die Hosen» bei der Erkenntnis, «mit
dem
Kaiser ist ein Krieg unmöglich».
Ausschlaggebend erwies sich dann das eingehende Gespräch, das Wilhelm II. am 28. Dezember 1905 im Neuen Palais mit dem britisch-südafrikanischen Diamantenmillionär Sir Alfred Beit führte, den er für einen Vertrauten des englischen Königs hielt. Beit ließ keinen Zweifel daran, daß Großbritannien gerade in der Marokkofrage (dem
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