Wilhelm II.
mit dem Ausbruch der Revolution von 1905 nicht geringer, sondern nur noch verlockender. Für die «Gallier», wie er die Franzosen stets nannte, hatte Wilhelm ohnehin nichts als Verachtung übrig – sie seien ein «weibliches» Volk, ein Volk von Königsmördern und Atheisten. Im Vergleich zu einer Bevölkerung von 38 Millionen jenseits des Rheins hätte Deutschlandjetzt schon 56 Millionen Einwohner und könne daher drei Millionen mehr Soldaten ins Feld schicken als die Franzosen, setzte er dem Zaren auseinander. Einem amerikanischen Gast sagte er (wohl scherzend), Deutschland habe einen solchen Bevölkerungsüberschuß, daß er die Franzosen vielleicht eines Tages würde auffordern müssen, sich zurückzuziehen, um Platz für deutsche Umsiedler zu machen.
Im Januar 1904 gab Wilhelm II. – wieder einmal ohne Kenntnis des Kanzlers – die Absicht seines Generalstabes preis, im Falle eines Konflikts im Westen über das neutrale Belgien herzufallen. Während eines Banketts für den belgischen König Leopold II. brüstete er sich mit der Behauptung, er entstamme der Schule Friedrichs des Großen, der Schule Napoleons I., und genau wie Friedrich zu Beginn des Siebenjährigen Krieges ohne Vorwarnung in Sachsen eingefallen wäre, so würde er blitzschnell über Frankreich herfallen. Er ließe nicht mit sich spaßen, erklärte er dem verdutzten König: «Wer im Falle eines europäischen Krieges nicht für mich sei, der sei gegen mich.» «Kategorisch» konfrontierte er Leopold mit der Frage, «welche Haltung er – der König – im Falle des Ausbruchs eines bewaffneten deutsch-französischen bezw. deutsch-englischen Konflikts einzunehmen beabsichtige». Wie der deutsche Geschäftsträger in Brüssel (allerdings erst zwölf Monate später) in Erfahrung brachte, verlangte der Kaiser bei dieser Gelegenheit von seinem hohen Gast, ihm «schon in Friedenszeiten eine schriftliche Erklärung darüber abzugeben, daß Belgien im Konfliktsfalle sich auf unsere Seite stelle, und daß der König uns zu diesem Zwecke u.a. die Verfügung über die belgischen Bahnen und befestigten Plätze gewährleiste. Tue dies der König nicht, so könne Er – S. M. der Kaiser – ihm Land und Dynastie nicht garantieren. Wir würden ev[entuell] ohne jeden Verzug in Belgien einrücken. […] Gebe der König dagegen die gewünschte Erklärung schon jetzt ab, so sei Er – S. M. der Kaiser – wenn auch nicht gern, geneigt, ihm nicht nur den Fortbestand des jetzigen Königreichs Belgien zu garantieren, sondern dieses sogar durch Zuteilung nordfranzösischer Gebietsteile, – Seine Majestät ließ hierbei u.a. auch den Ausdruck ‹Alt-Burgund› fallen –, zu vergrößern.»König Leopold war durch diese ultimative Forderung dermaßen verstört, daß er beim Aufstehen seinen Helm falsch aufsetzte, mit dem Adler nach hinten. Natürlich breitete sich die Nachricht von diesem ungeheuren Vorfall in Windeseile aus. In Paris und London zog man seine Schlüsse. Die Entente cordiale zwischen Frankreich und Großbritannien wurde im Frühjahr 1904 abgeschlossen.
Was von dem Angebot des Kaisers an König Leopold wirklich zu halten war, geht aus einer Depesche hervor, die Wilhelm II. im Juli 1905 unmittelbar nach Abschluß des Vertrags von Björkö an Reichskanzler Bülow richtete. Sollte es nun zum Krieg mit England kommen, schrieb er, «so müssen sofort […] zwei Depeschen abgehen nach Brüssel und Paris mit einer Sommation, sich binnen sechs Stunden zu erklären, ob für oder wider uns. In Belgien müssen wir sogleich einmarschieren, wie es sich auch erklären möge. Bei Frankreich kommt es darauf an, ob es neutral bleibt.» In diesem Falle könne man erwägen, «ob Frankreich als Lockspeise für sein gutes Verhalten uns gegenüber nicht etwa eine Arrondierung auf Kosten Belgiens als Ersatz für die verlorenen Reichslande [Elsaß-Lothringen] angeboten werden könnte». Mache dagegen Frankreich mobil, dann sei das eine Kriegsdrohung gegen Deutschland zugunsten Englands, «und dann müssen russische Regimenter mit uns marschieren». Wie im Rausch fuhr Seine Majestät in seinem Telegramm fort: «Ich habe Glauben, die Aussicht, im schönen Gallien zu rabuschern und zu plündern, würde den Russen Freude genug bereiten, um sie zu locken. […] Auf aktive Hülfe Rußlands ist in nächster Zeit nicht zu rechnen, da Krieg und Revolution das Heer beschäftigt und keine Flotte mehr da ist. Aber es läßt uns den Rücken frei! Passiv sehr gut!» Wie verlockend
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