Wilhelm II.
Herzstück der Entente) entschlossen sei, sich schützend vor Frankreich zu stellen. Drei Tage nach dieser Begegnung schrieb Wilhelm seinen Silvesterbrief, einen der berüchtigsten Briefe seiner ganzen Regierungszeit, in dem er Bülow gegenüber die Gründe auflistete, die fürs erste gegen die Entfesselung eines «Weltkrieges» – so der Kaiser wörtlich –sprächen. Er führte aus: «Wegen Marokko England den Gefallen tun, das Odium eines Angriffs gegen Frankreich auf uns zu nehmen, damit es dann endlich die ersehnte Gelegenheit hat, unter dem schönen Gewande ‹Unterstützung des überfallenen Schwachen› über uns herzufallen, das liegt nicht in unserem Interesse und ist auch kein Programm für die Begeisterung unseres Volkes. […] Wenn Sie, lieber Bülow, mit der Aussicht einer Kriegsmöglichkeit […] rechnen, so müßten Sie dann noch energisch sich nach unseren Verbündeten umsehen. Diese müßten unbedingt zur Mithülfe aufgefordert werden, denn ihre Existenz steht dann auch auf dem Spiel, da es ein Weltkrieg würde. Vor allem aber müßte sofort eine Alliance mit dem Sultan gemacht werden coute qui coute, die die mohammedanischen Kräfte in weitester Weise – unter preußischer Führung – zu meiner Verfügung stellen, auch mit allen Arabischen Herrschern ebenso. Denn allein sind wir nicht in der Lage, gegen Gallien und England verbündet den Krieg zu führen. Das nächste Jahr ist besonders ungünstig, als wir gerade bei der Umbewaffnung unserer Artillerie mit einem neuen (Rohrrücklauf) Geschütz uns befinden, was ein Jahr dauern wird, bis es durchgeführt ist. Auch die Infanterie ist in der Umbewaffnung begriffen und erhält neue Gewehre und neue Munition. Bei Metz sind überall noch unvollendete Forts und Batterien, die erst in Angriff genommen sind. Somit befinden wir uns militärtechnisch nicht in einem Stadium, in welchem ich als Oberster Kriegsherr einwilligen würde, ohne weiteres meine Armee leichten Herzens einzusetzen.» Zur See grenze die Lage Deutschlands «geradezu fast an Ohnmacht», weil der Reichstag jahrelang die Flottenverstärkung abgelehnt hatte, klagte der Kaiser. «Einer Comb[ination] Frankreich – Englandflotte sind wir absolut wehrlos gegenüber.» Sodann fuhr Wilhelm fort: «Also ich möchte dringend rathen, die Sachen so zu dirigieren, daß, soweit als irgend möglich uns für jetzt die Kriegsentscheidung erspart werde. Zudem kann ich in einem solchen Augenblick wie jetzt, wo die Sozialisten offen Aufruhr predigen und vorbereiten, keinen Mann aus dem Lande ziehen, ohne äußerste Gefahr für Leben und Besitz seiner Bürger. Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlichmachen – wenn nötig per Blutbad – und dann Krieg nach außen! Aber nicht vorher und nicht a tempo.»
Die Entscheidung des Kaisers gegen den Krieg verdarb Holstein das Konzept. Mit dem Auffahren groben Geschützes hatte Deutschland zwar den Sturz des französischen Außenministers Delcassé, der die Entente mit England zustande gebracht hatte, sowie die Berufung einer internationalen Konferenz in Algeciras über die Zukunft Marokkos erzwungen, aber wie sollte es nun weitergehen? Die deutsche Delegation blieb ohne Weisung aus Berlin, die übrigen Delegierten (aus Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, Portugal, den Niederlanden, Belgien, Schweden, Norwegen und den USA) rätselten monatelang in der kleinen südspanischen Hafenstadt darüber, was das Kaiserreich mit der ganzen Aktion eigentlich bezwecke. Schließlich leitete Bülow am 7. März 1906 den Befehl des Kaisers zum Einlenken an den Chefunterhändler Radowitz in Algeciras weiter. Weit entfernt, das eigentliche Ziel der Spaltung der anglo-französischen Entente erreicht zu haben, hatte das kriegerische Auftreten des Kaiserreichs zu einem noch engeren Schulterschluß der beiden westeuropäischen Weltmächte geführt. Schlimmer noch: bis auf Österreich-Ungarn hatten sämtliche übrigen an der Konferenz teilnehmenden Staaten, darunter die neue Weltmacht USA, gegen Deutschland Partei ergriffen. Das unruhige Kaiserreich war mit seiner herausfordernden und zugleich unkalkulierbaren Politik in die Sackgasse der Isolation geraten.
Die Zuspitzung des deutsch-englischen Gegensatzes
Anfang 1904 hatte Wilhelm II. seine Absicht kundgetan, seinen Flügeladjutanten und Duzbruder Helmuth («Julius») von Moltke, den Neffen des legendären Generalfeldmarschalls, als Nachfolger Schlieffens zum Chef des Großen
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