Wilhelm II.
Generalstabes zu ernennen. War der geschmeidige Bülow dank der Zuflüsterungen Philipp Eulenburgs dem Kaiser zugeführt worden, so galt die Wahl Moltkes als eine ureigene Entscheidung des Obersten Kriegsherrn, ja als ein geradezu erschreckendes Beispiel des reinsten Persönlichen Regiments. Als Träger eines historischen Namensund als einer der «Langen Kerls», die der Monarch in bewußter Nachahmung des Soldatenkönigs um sich sammelte, hatte Moltke am Hofe und in der kaiserlichen Personaldiplomatie eine gewisse Rolle gespielt – er war es, der dem Zaren Wilhelms gegen die «Gelbe Gefahr» gerichtete Zeichnung «Völker Europas!» überbracht hatte –, aber Chef des Generalstabes?! Die Ernennung dieses Hofgenerals zum einflußreichsten Amt in der preußisch-deutschen Armee nahm der Kaiser gegen den Rat des Chefs des Militärkabinetts und fast der gesamten Generalität vor. «Eine tiefere Demüthigung des Generalstabes kann es garnicht geben», seufzte der im Sterben liegende Waldersee, als er von dem Vorhaben Wilhelms erfuhr. Schwermütig und fatalistisch veranlagt, unter dem Einfluß seiner Frau dem Okkultismus Rudolf Steiners zugänglich, war niemand so sehr von seiner Nichteignung für das verantwortungsvolle Amt durchdrungen wie Moltke selbst. Doch Wilhelm bestand auf dessen Beförderung mit dem unheilvollen Spruch, «er brauche keinen Generalstab, er mache Alles allein mit seinen Flügeladjutanten». Beim Kaiser nehme «das Bewußtsein der Größe in einer Weise zu, die geradezu beängstigend wird», vermerkte Waldersee.
Mit der Ernennung Moltkes zum Generalstabschef im Januar 1906 trat eine weitere Figur auf das Parkett in Berlin, die in engster Zusammenarbeit mit Wilhelm II. den Kurs der deutschen Politik bis hin zum Kriegsausbruch 1914 mitgestalten sollte. Hatte sich Bülow als «verantwortlicher» Reichskanzler schon nicht getraut, die von ihm allmählich als desaströs erkannten Schlachtflottenpläne des Kaisers in Frage zu stellen, so wagte er es erst recht nicht, das ihm als Zivilisten verbotene Heiligtum der militärischen Kommandogewalt zu betreten und die Pläne, die der Oberste Kriegsherr in intimer Zusammenarbeit mit seinem neuen Generalstabschef ausheckte, zu hinterfragen. Gegen die Kombinationen Kaiser-Tirpitz in der Marinepolitik und Kaiser-Moltke im Bereich der Armee war der Reichskanzler so gut wie machtlos. Das lief auf eine fatale Beeinträchtigung seines Handlungsspielraums hinaus, zumal Wilhelm II. nach der Demütigung von Algeciras geneigter denn je war, gerade die Englandpolitik persönlich in die Hand zu nehmen.
Es mag zunächst überraschen, daß Moltke nicht dafür eintrat, das nach den Niederlagen im Krieg gegen Japan zusammengebrochene Zarenreich als potentielles Angriffsobjekt anzusehen, wie es nach 1912 der Fall sein sollte. Wie Wilhelm II. und Tirpitz betrachtete aber auch er weiterhin die beiden Westmächte und in erster Linie Großbritannien als die zu bekämpfenden Feindesmächte. Mag der Vertrag von Björkö auch Makulatur geworden sein, die Hoffnung auf die russische Neutralität in einem etwaigen europäischen Konflikt bildete auch nach der Ersten Marokkokrise die Wunschvorstellung Kaiser Wilhelms II. und seines Generalstabschefs. So telegraphierte der Oberste Kriegsherr an den Reichskanzler im Juli 1908 nach einem Gespräch mit Moltke auf der
Hohenzollern:
Falls es zum Krieg im Westen käme, müsse er so eingefädelt werden, «dass England uns anfalle und, falls es Frankreich dazu bekommt, auch Letzteres uns den Krieg erkläre. Dann seien wir die Angegriffenen» – und Rußland wäre nicht mehr vertraglich verpflichtet, seinem Bündnispartner Frankreich beizustehen. Der Kanzler müsse also «im Falle ernster Verwickelungen unsere Taktik so einrichten, dass England und Frankreich uns angreifen, damit dadurch wir die Beleidigten sind. Bei solcher Wendung seh[e]n Moltke und ich mit fester Zuversicht und Ruhe mit Gottvertrauen auch den schwersten Aufgaben getrost entgegen.» Der provozierte Defensivkrieg nach dem Vorbild der Emser Depesche 1870 wurde unter Moltke ein zentraler Bestandteil der deutschen Kriegsplanung. Gleichzeitig bestimmte der Kaiser, das Tirpitzsche Flottengesetz werde «bis ins letzte Tüttelchen ausgeführt; ob es den Briten paßt oder nicht ist egal! Wollen sie den Krieg, so mögen sie ihn anfangen, wir fürchten ihn nicht!»
Aufgrund seiner Verwandtschaft mit dem britischen Königshaus hielt sich Kaiser Wilhelm, was England betraf, seinen
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