Wilhelm II.
englandfeindlich, doch er, der Kaiser, trete immer schon mit seiner ganzen Macht für die Interessen des Inselreiches ein. Im Burenkrieg habe er seiner Großmutter Queen Victoria sogar den Kriegsplan zugeschickt, mit dem Feldmarschall Roberts den Sieg in Südafrika errungen hätte; und als Rußland und Frankreich seinerzeit mit dem Plan einer Kontinentalliga an ihn herangetreten seien mit dem Ziel, England «bis in den Staub» zu demütigen, habe er dieses Ansinnen nicht nur weit von sich gewiesen, sondern die Perfidie Rußlands und Frankreichs – der nunmehrigen Ententepartner Englands – umgehend nach London gemeldet. Auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland wiederholte Wilhelm II. diese «Horrenda», wie Bülow sie später nennen sollte, einflußreichen Engländern gegenüber so eindringlich, daß man den Eindruck gewinnt, als glaubte er seine Freundschaftsbeteuerungen selbst.
Wie schon im Falle seines Briefes an Lord Tweedmouth war es die Absicht Wilhelms II., mit solchen Beteuerungen die Engländer von der Harmlosigkeit des deutschen Flottenbaus zu überzeugen. Am 10. September 1908 rief er den inzwischen zum Brigadegeneral avancierten Edward Stuart Wortley, den er zu den Manövern in Lothringen eingeladen hatte, zu sich und wiederholte die «Beweise» seiner Freundschaft für England, die er ihm im Dezember in Highcliffe dargelegt hatte. Er bat den treuherzigen Engländer, die Hauptpunkte des Gesprächs in einer englischen Zeitung publizieren zu lassen. Beglückt schrieb Wilhelm an den Reichskanzler, Stuart Wortley habe ihm erklärt, seine Landsleute seien «verdreht wie Märzhasen», wenn sie an einen bevorstehenden deutschen Angriff glaubten. Sechs Wochen später sollten diese Bemerkungen wortwörtlich im
Daily Telegraph
stehen.
Am 23. September 1908 sandte Stuart Wortley dem Kaiser das Manuskript seines Artikels zur Genehmigung ein. Das heute noch vorhandene Original umfaßt zehn maschinenschriftlicheSeiten. Die Behauptung Bülows, er habe das auf schlechtem Papier unleserlich mit der Hand geschriebene englische Gekritzel nicht lesen können, erweist sich schon damit als schamlose Lüge! Zudem wurden im Auswärtigen Amt weitere Abschriften mit drei vorgeschlagenen Berichtigungen am Korrekturrand angefertigt, so daß dem Reichskanzler zeitweilig nicht weniger als drei Versionen zur Hand waren. Nicht aus Unkenntnis der kaiserlichen Behauptungen und auch nicht – wie seine «kaisertreuen» Feinde ihm später vorwarfen –, um den Kaiser bloßzustellen und seine eigene Macht zu vergrößern, gab Bülow seine Zustimmung zur Veröffentlichung des Textes, sondern weil er mit der Absicht, die Wilhelm mit dem Interview verfolgte, übereinstimmte. Die Eigenmächtigkeiten Wilhelms II. hinzunehmen war bei ihm längst zum System geworden.
Die Beamten des Auswärtigen Amtes, die Bülow, entgegen der Anweisung des Kaisers, mit der Überprüfung des Artikels betraut hatte, waren aber überfordert. Sie gingen davon aus, daß die grundlegende Entscheidung über die politische Opportunität der Veröffentlichung vom Reichskanzler selbst gefällt werden würde. In die Endziele des Tirpitzschen Schlachtflottenbaus waren sie ebensowenig eingeweiht wie die Reichstagsabgeordneten, die die Mittel dafür bewilligten. Was den Burenkrieg betraf, hatte Wilhelm tatsächlich im Dezember 1899 respektive im Februar 1900 Denkschriften unter dem Titel «Gedankensplitter über den Krieg in Transvaal» ungebeten an den englischen Hof geschickt, doch sie wirkten dort verletzend und hatten keinerlei Einfluß auf die Kriegführung in Südafrika. Als besonders heikel erwies sich die Aussage Wilhelms über seine Zurückweisung einer angeblichen russisch-französischen Anregung zur Bildung einer Kontinentalliga gegen England, wußten die Beamten doch genau, daß ein solches Bündnis bereits 1896 bei der Absendung der Krüger-Depesche das Ziel des Kaisers gewesen war und auch weiterhin das Hauptanliegen seiner Kontinentalpolitik darstellte.
Die Empörung richtete sich ganz allgemein gegen Wilhelms II. seit 1890 praktiziertes Persönliches Regiment. Die Gelegenheitzu einer grundlegenden Verfassungsreform, die angesichts der fast revolutionären Stimmung im ganzen Land und der tumultuarischen Debatte im Reichstag gegeben war, strich jedoch ungenutzt vorüber. Zwar konnte Bülow dem Monarchen am 17. November 1908 eine Erklärung abringen, künftig «die Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen
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