Wilhelm II.
Verantwortlichkeiten» zu gewährleisten, doch die Eingeweihten wußten nur zu gut, daß sich mit diesem Kompromiß wenig geändert hatte. Mit Recht urteilte die Schwester des Kaisers: «S. M. hält sich für unfehlbar, Bül[ow] jonglirt weiter u. ich […] kann nicht aufhören, ernst u. schwarz in die Zukunft unserer Deutschen politischen dynastischen u. Reg[ierungs]-Verhältnisse zu sehen.» Mit seinem «Verrat an der Krone» hatte Bülow zudem das «Allerhöchste Vertrauen» für immer verspielt. Unter seinem Nachfolger Bethmann Hollweg konnte Wilhelm II. sein Persönliches Regiment vor allem in der Außen- und Rüstungspolitik unvermindert fortsetzen.
Besorgter denn je stellten sich nach dem Tweedmouth-Brief, dem Hale-Interview und der
Daily-Telegraph
-Affäre die Staatsmänner in London und Paris, Washington, St. Petersburg und Tokio die Frage, ob der Kaiser, der das perfekteste Kriegsinstrument auf Erden befehligte, überhaupt noch zurechnungsfähig sei. Ihre Befürchtungen waren nicht unbegründet. Nach dem bizarren Tod des als Tänzerin verkleideten Generals von Hülsen-Haeseler in Donaueschingen und der teilweisen Veröffentlichung seiner eigenen rabiaten Auslassungen an Hale erlitt der Kaiser erneut einen Nervenzusammenbruch.
Wochenlang zog sich Wilhelm schmollend und auf Rache sinnend zurück und entwickelte die wildesten Verschwörungstheorien, um sich das Debakel der
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-Krise zu erklären. Nicht er und seine Herrschaftsweise seien schuld an den Novemberereignissen, sondern Bülow, der greise Geheimrat von Holstein und Maximilian Harden, die sich im Interesse des internationalen Judentums gegen ihn verschworen hätten, um ihn zu entmachten! Zu Weihnachten 1908 klagte er in einem Brief an Fürstenberg: «Ich bin wirklich hart mitgenommen worden!1907 Kuno Moltke, Hohenau und das ganze Jahr über die Eulenburg-Affaire die bis ins Frühjahr 1908 spielte. 1908 die uns bekannten Ereignisse! Das ist doch ein bißchen reichlich für ein empfindsames Gemüth! […] Holstein hat mit Harden ein festes Abkommen, die jagen gemeinschaftlich. Holstein hat seinen alten Einfluß über Bülow vollkommen wiederhergestellt und ist der unverantwortliche Leiter unsrer Politik. […] Dieser saubere Ring ist es der unter Holstein’s Leitung indirekt durch Bülow das deutsche Reich – nach Ausschaltung des impulsiven unkonstitutionellen Kaisers – dirigirt.» Wenige Tage darauf heißt es in einem weiteren Kaiserbrief an Fürstenberg: «Die goldene Internationale hat unser Vaterland in ihrer Gewalt und spielt durch die von ihr geleitete Presse Fangball mit unseren heiligsten Gütern! Man wird allmählich zum überzeugten Antisemiten. Wenn das Deutsche Volk je aus seinem Dämmerzustand der von dieser Judenpresse erzeugten Hypnose erwachen sollte und sehend wird, dann kann es was nettes geben.» Ein erschreckender Realitätsverlust beim Fortbestand einer ungebrochenen persönlichen Entscheidungsmacht – für eine besonnene Krisenbewältigung, die für die Erhaltung des Weltfriedens dringender denn je erforderlich gewesen wäre, ließ dies wahrlich nichts Gutes erahnen.
Kanzlerkarussell 1909: Von Bülow zu Bethmann Hollweg
Nach seinem «Verrat an der Krone» waren Bülows Tage als Reichskanzler gezählt. Von Fürstenberg und anderen «Kaisertreuen» darin bestärkt, verstieg sich Wilhelm II. in die Überzeugung, mit dem Interview in der Londoner Zeitung habe ihm Bülow bewußt eine Falle gestellt, um ihn vor aller Welt zu blamieren und die Macht an sich zu reißen. Bitter klagte er, die Affäre habe ihm «monatelang Angriffe der gemeinsten und wüstesten Art eingetragen, die Krone mit meterhohem Schmutz bedeckt, das altpreußische Königthum und den Glanz der Deutschen Kaiserkrone schwer geschädigt, dem Hohenzollernhause maaßlose Schmach und Schande und mir und der Kaiserin namenloses Weh und Leid gebracht». Anfangs ließ er sich dem Kanzler gegenüber wenig anmerken, doch das Vertrauensverhältnis,das seit 1897 die Grundlage ihres Zusammenwirkens gebildet hatte, war restlos zerstört. Als der Reichstag am 24. Juni 1909 die Reichsfinanzreform ablehnte und Bülow um seine Entlassung bat, nahm Wilhelm diese umgehend an, und zwar trotz der offenkundigen Gefahr, damit den Anschein eines halbparlamentarischen Vorgangs zu erwecken. Die Ernennung des neuen Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten, die sich in gewohnter Oberflächlichkeit vollzog, zeigt dahingegen mit aller Deutlichkeit, daß die Macht
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