Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wilhelm Storitz' Geheimnis

Wilhelm Storitz' Geheimnis

Titel: Wilhelm Storitz' Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
ist.
    – Nun, sagte ich, Dr. Roderich dürfte wohl dieser Art Leuten nicht zuzuzählen sein – der Begriff »Arzt« schließt kaltes Blut und einen klaren Kopf in sich – aber Ihre Mutter?… Ihre Schwester?…
    – Auch sie sind nicht besser als die anderen. Alle sind so! An dieser Schwäche – denn es ist eine Schwäche – prallen all meine Bekehrungsversuche machtlos ab…. Markus wird mich wohl darin unterstützen; vielleicht wird er mehr Erfolg haben!
    – Wenn ihn Fräulein Myra nicht auf ihre Seite zieht!….
    – Aber jetzt, Vidal, müssen Sie sich über die Brüstung beugen…. Richten Sie Ihre Blicke nach Südosten… erblicken Sie dort nicht, am äußersten Ende der Stadt, einen Aussichtsturm?
    – Ja, ich sehe ihn, antwortete ich, und ich glaube in ihm den Turm Ihres Vaterhauses zu erkennen.
    – Recht geraten! Aber in diesem Hause gibt es einen Speisesaal, und in diesem Speisesaal wird in kürzester Zeit das Essen aufgetragen, und nachdem Sie dazu eingeladen sind…
    – Ich gehorche Ihren Anordnungen, mein lieber Hauptmann.
    – Nun, so wollen wir gehen! Wir überlassen die
»Vár«
wieder ihrer mittelalterlichen Einsamkeit, die wir für kurze Zeit gestört haben und schlagen über die Wälle den Heimweg ein; so lernen Sie auch den Norden der Stadt kennen.«
    Wenige Minuten darnach schritten wir wieder über die Zugbrücke hinweg.
    Jenseits eines sehr schönen Viertels, das sich bis an die Peripherie von Ragz erstreckt, beschreibt der Stadtwall, der bei jeder größeren, ihn kreuzenden Straße seinen Namen ändert, in einer Länge von mehr als einer Meile drei Viertel eines Kreisbogens, der durch die Donau ergänzt wird. Diese Wälle sind mit einer vierfachen Reihe von in schönster Entwicklung stehenden Bäumen bepflanzt, mit Buchen, Linden und Kastanienbäumen. Nach der einen Seite ziehen sich die aufgeworfenen Schanzen hin, über welche hinaus man die Landschaft überblicken kann; auf der anderen erheben sich zahlreiche Prunkbauten, vor denen meist ein schöner Vorhof liegt, der mit herrlichen Blumenbeeten geschmückt ist. An der Rückseite der Häuser breitet sich ein wohlgepflegter, durch frische Springbrunnen belebter Garten aus.
    Schon zu dieser frühen Stunde zeigten sich auf der Fahrstraße des Walles einige trefflich bespannte Equipagen und in den Nebenalleen tauchten Gruppen eleganter Reiter und Reiterinnen auf.
    Bei der letzten Abzweigung gingen wir den Tököly-Wall hinab, um dann in den Batthyány-Kai einzubiegen.
    In einer Entfernung von wenigen Schritten erblickte ich in der Mitte eines Gartens ein einsam stehendes Haus; die Fensteröffnungen waren mit Rolladen verschlossen, die niemals geöffnet zu werden schienen; die Steine des Unterbaues waren mit Moos bewachsen und von einem Dornengewirr umgeben. Es bildete einen auffallenden Gegensatz mit den übrigen, wohlgepflegten Bauten des Stadtwalles. Durch das Gitter, an dessem Fuße Disteln wuchsen, gelangte man in einen kleinen Hof, in dem zwei vom Alter gebeugte Ulmen standen, deren weit klaffender Stamm die innere Fäulnis allen Blicken preisgab.
    Eine Türe, deren ursprüngliche Farbe durch den Einfluß von Wind und Wetter und Winterschnee zerstört war, führte ins Innere des Hauses; man gelangte zu ihr über drei morsche Stufen.
    Über dem Erdgeschoß erhob sich ein Stockwerk mit einem Dach aus großen Schieferplatten, über dem sich ein viereckiger Ausguck aufbaute, dessen schmale Fenster durch dichte Vorhänge verhüllt waren.
    Das Haus machte den Eindruck, unbewohnt zu sein, wenn es überhaupt bewohnbar war.
    »Wem gehört dieses Haus? fragte ich.
    – Einem Original, antwortete Hauptmann Haralan.
    – Es ist ein Schandfleck für das Viertel, sagte ich. Die Stadt sollte es ankaufen und niederreißen.
    – Umsomehr, mein lieber Vidal, als der Eigentümer, wenn das Haus vom Erdboden verschwunden ist, wahrscheinlich der Stadt auf Nimmerwiedersehen den Rücken kehren und sich zum Teufel scheren würde, seinem nächsten Anverwandten, wie die Klatschbasen von Ragz steif und fest behaupten!
    – Was Sie nicht sagen!… Und wer ist denn diese höchst bemerkenswerte Persönlichkeit?
    – Ein Deutscher.
    – Ein Deutscher?
    – Ja, ein Preuße.
    – Wie heißt er?«
    Im Augenblicke, wo Hauptmann Haralan den Mund öffnete, um meine letzte Frage zu beantworten, öffnete sich die Haustüre. Zwei Männer traten heraus. Der ältere, welcher wohl sechzig Jahre zählen mochte, blieb auf der Schwelle stehen, während der andere den Hof

Weitere Kostenlose Bücher