Wilhelm Storitz' Geheimnis
Platz. Frau Roderich schien sich wohler zu fühlen und von den überstandenen Aufregungen erholt zu haben. Mein Bruder vergaß bei Myra, am Vorabende des Tages, an dem sie seine Frau werden sollte, seine Sorgen. Selbst Hauptmann Haralan schien ruhiger, wenn er auch finster in sich gekehrt blieb.
Ich hatte mir vorgenommen, mein Möglichstes zu tun, um Leben in die kleine Gesellschaft zu bringen und die letzten trüben Schatten der Erinnerung zu verscheuchen. Glücklicherweise wurde ich in meinem Vorhaben von Myra unterstützt, welche an diesem Abend die Verkörperung der Anmut und des Frohsinns war. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte sie sich ans Klavier und sang uns alte ungarische Weisen vor; es war, als wolle sie den Eindruck des abscheulichen »Liedes vom Hasse« auslöschen, das in diesem Zimmer erklungen war.
Als ich mich verabschieden wollte, sagte sie lächelnd:
»Morgen, Herr Heinrich, vergessen Sie nicht….
– Ich und vergessen? sagte ich, indem ich auf ihren heiteren Ton einging.
– Ja, vergessen Sie nicht, daß morgen der Tag der Audienz beim Gouverneur ist, wo uns die Heiratsbewilligung erteilt wird, wie der technische Ausdruck lautet!
– Richtig! Das ist ja morgen!…
Ich betrachtete mir jeden der Passagiere. (S. 135.)
– Und Sie sind einer der Zeugen Ihres Bruders….
– Sie taten recht, mich daran zu erinnern, Fräulein Myra. Zeuge meines Bruders!… Ich dachte nicht mehr daran!
– Das wundert mich gar nicht! Ich habe nämlich bemerkt, daß Sie in letzter Zeit manchmal zerstreut sind….
– Ich bitte um Entschuldigung, aber ich verspreche, daß ich morgen nicht an Zerstreuungen leiden werde…. Wenn nur Markus nicht zerstreut ist….
– O, für ihn bürge ich. Also, pünktlich um vier Uhr!
– Schon um vier Uhr, Fräulein Myra?… Ich war der Meinung, es wäre erst um halb sechs Uhr…. Aber seien Sie unbesorgt. Zehn Minuten vor vier Uhr werde ich zur Stelle sein.
– Gute Nacht! – Gute Nacht wünsche ich dem Bruder meines Markus, welcher bald mein Bruder sein wird.
– Gute Nacht, Fräulein Myra, gute Nacht!«
Am nächsten Morgen hatte Markus einige Besorgungen zu machen. Er schien sein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden zu haben und ich ließ ihn allein fortgehen.
Ich begab mich ins Rathaus, aus übertriebener Vorsicht; ich wollte nämlich die absolute Gewißheit erlangen, daß Wilhelm Storitz nicht zurückgekehrt sei.
Ich fragte Herrn Stepark – zu welchem ich sogleich vorgelassen wurde – ob er irgend welche neue Erkundigungen eingezogen habe.
»Nichts Neues, Herr Vidal, antwortete er. Sie können versichert sein, daß unser Mann nicht in Ragz weilt.
– Ist er noch in Spremberg?
– Ich kann nur behaupten, daß er sich vor vier Tagen noch dort aufhielt.
– Sie sind davon verständigt worden?
– Ja, durch einen Eilboten der deutschen Polizei, der mir die Bestätigung überbrachte.
– Das beruhigt mich.
– Und mich ärgert es, Herr Vidal. Dieser Teufel in Menschengestalt – Teufel ist das richtige Wort – scheint mir überhaupt nicht geneigt, unsere Grenze jemals wieder zu überschreiten.
– Um so besser, Herr Stepark!
– Jawohl, um so besser für Sie, aber ich, als Polizeichef, hätte diese Art Hexenmeister gerne gefaßt und zwischen vier Mauern gesperrt!… Nun, vielleicht wird mein Wunsch später noch erfüllt!…
– Meinethalben, später, nach der Hochzeit, Herr Stepark; und ich wünsche Ihnen besten Erfolg!«
Ich dankte dem Polizeichef und verließ ihn.
Um vier Uhr nachmittag waren wir alle im Salon bei Dr. Roderich versammelt. Zwei Wagen warteten auf dem Tököly-Wall; der eine war für Myra, ihre Eltern und einen Freund der Familie, den Richter Neuman, der zweite für Markus, Hauptmann Haralan, Leutnant Armgard (einen seiner Kameraden) und mich bestimmt. Herr Neuman und Hauptmann Haralan waren die Zeugen der Braut, Leutnant Armgard und ich die Zeugen des Bräutigams.
Hauptmann Haralan hatte mir bereits erklärt, daß es sich an diesem Tage nicht um die wirkliche Trauung, sondern um eine Art vorbereitender Zeremonie handle. Erst mit der Bewilligung des Gouverneurs durfte zur Vermählung in der Kathedrale geschritten werden. Bis dahin waren die Brautleute, wenn auch nicht verheiratet, so doch fest mit einander verbunden, nachdem sie – falls ein unvorhergesehenes Hindernis die beabsichtigte Heirat unmöglich machen sollte – zu einem ewigen Zölibat verurteilt waren.
Vielleicht ließen sich in Frankreichs Mittelalter
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