Wilhelm Storitz' Geheimnis
Berlin, waren erschienen. Der Kirchhof konnte die Menge der Eindringenden nicht fassen. Die Folge davon waren zahlreiche Unfälle; einige Personen erstickten im Gedränge und fanden am nächsten Morgen einen Platz in dem Kirchhofe, welchen sie am Tage vorher vergeblich angestrebt hatten.
Man hatte nicht vergessen, daß ein Sagenkreis das Leben und den Tod des Gelehrten umgab. All diese abergläubischen Leute warteten auf ein Wunder. Außergewöhnliche Dinge sollten an diesem Erinnerungstage vor sich gehen! Vielleicht würde der gelehrte Preuße aus seinem Grabe auferstehen und die Weltordnung mußte in diesem Augenblicke einen Umsturz erfahren. Die Erde änderte vielleicht ihre Achsenbewegung, würde sich von Osten nach Westen drehen und diese anormale Rotation mußte die entsetzlichsten Folgen nach sich ziehen, eventuell den Untergang des gesamten Sonnensystems!… etc. etc.
Derartige Gerüchte glaubte die Menge. Aber merkwürdigerweise war alles auf durchaus natürlichem Wege vor sich gegangen. Der Grabstein hatte sich nicht von selbst emporgehoben; der Tote hatte nicht seine Ruhestätte verlassen und die Erde fuhr fort, sich nach jenen ewigen Gesetzen zu bewegen, die seit dem Weltanbeginn in Kraft stehen.
Was uns besonders interessierte, war der Umstand, daß Wilhelm Storitz persönlich der Feier beigewohnt hatte. Das war der untrügliche Beweis, daß er wirklich nicht mehr in Ragz weilte. Ich hoffte zuversichtlich, daß er die Stadt mit der bestimmten Absicht verlassen habe, nicht mehr zurückzukehren.
Natürlich beeilte ich mich, diese Botschaft Hauptmann Haralan und Markus zu überbringen.
Obwohl sich die Aufregung, die durch die ungewöhnlichen Ereignisse hervorgerufen worden war, besänftigt hatte, gab sich der Gouverneur von Ragz damit nicht zufrieden. Ob nun die unbegreiflichen Vorgänge, die niemand glaubwürdig zu erklären vermochte, einem meisterhaft ausgeführten Taschenspielerkunststück oder einer anderen Ursache zuzuschreiben waren, so hatten sie doch die Stadt aufgeregt und es mußten Vorkehrungen getroffen werden, eine Wiederholung zu verhindern.
Seine Exzellenz war sehr beunruhigt, als der Polizeichef die Stellung klar machte, die Wilhelm Storitz gegenüber der Familie Roderich einnahm und von dessen Drohungen gegen dieselbe berichtete.
Und als ihm auch das Ergebnis der Haussuchung mitgeteilt wurde, entschloß sich der Gouverneur, sehr energisch gegen diesen Fremden vorzugehen.
Es war ein Diebstahl begangen worden; entweder war Wilhelm Storitz selbst der Täter oder ein Mitschuldiger hatte für ihn die Tat ausgeführt. Wenn er Ragz nicht verlassen hätte, würde er jetzt arretiert worden sein und es war nicht anzunehmen, daß er aus den Mauern des Gefängnisses unsichtbar entweichen konnte, wie er unsichtbar in des Doktors Haus gedrungen war.
»Mein Kranz!…« rief sie und eilte meinem Bruder entgegen. (S. 126.)
Aus diesem Anlaß entwickelte sich am 30. Mai folgendes Gespräch zwischen Seiner Exzellenz und Herrn Stepark.
»Haben Sie nichts Neues vernommen?
– Nein, Herr Gouverneur.
– Ist kein Grund zur Annahme vorhanden, daß Wilhelm Storitz die Absicht habe, nach Ragz zurückzukehren?
– Nein.
– Ist sein Haus immer gut bewacht?
– Tag und Nacht.
– Ich mußte nach Budapest Bericht erstatten, sagte der Gouverneur, da die Angelegenheit mehr Lärm verursacht hat, als nötig war und ich bin beauftragt, Maßregeln zu ergreifen, der Sache ein Ende zu machen.
– Solange Wilhelm Storitz nicht in Ragz auftaucht, ist nichts von ihm zu befürchten, sagte der Polizeichef; und wir wissen aus sicherer Quelle, daß er am 25. Mai in Spremberg weilte.
– Trotzdem, Herr Stepark, kann er versuchen, hierher zurückzukehren, und das muß verhindert werden.
– Nichts leichter als das, Herr Gouverneur. Nachdem es sich um einen Ausländer handelt, genügt ein Ausweisungsdekret…
– Ein Dekret, unterbrach ihn der Gouverneur, das ihm nicht nur den Aufenthalt in Ragz, sondern in ganz Österreich-Ungarn verbietet.
– Sobald ich dieses Dekret in Händen halte, Herr Gouverneur, antwortete der Polizeichef, werden alle Grenzposten sofort verständigt werden.«
Das Dekret wurde sofort unterzeichnet und Wilhelm Storitz war ein landesverwiesener Mann.
Diese Maßnahmen trugen sehr zur Beruhigung Dr. Roderichs, seiner Familie und Freunde, bei. Aber wie weit entfernt waren wir noch, das Geheimnisvolle der Sache zu begreifen; noch viel weniger aber hätten wir die Wendungen ahnen
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