Will Trent 01 - Verstummt
Sally Finney, die Mutter des Mädchens, habe ihre Tochter gefunden, als sie sie für den Kirchgang wecken wollte.
Kapitel 3
Michael fühlte sich beschissen. Verdammt, er war beschissen.
Das erste Mal mit Cynthia konnte man als Unfall bezeichnen. Michael wusste, dass das nur eine lahme Ausrede war. Es war ja nicht so, als würde man einfach stolpern, und als Nächstes stellt man fest, dass man in einer Muschi steckt, aber so in der Richtung dachte Michael wirklich. Phil hatte eines Abends aus Kalifornien angerufen und war verzweifelt, weil er Cynthia nicht erreichen konnte. Der Mann war ständig unterwegs. Er verkaufte Damenstrümpfe an die großen Warenhäuser und schob dabei wohl auch die eine oder andere Nummer. Michael hatte keine Beweise dafür, aber er hatte drei Jahre lang für die Sitte gearbeitet und kannte diese Art von Vertretern, die sich auf Reisen immer beim örtlich verfügbaren Frischfleisch bedienten. Die dauernden Anrufe bei Cynthia dienten eher zur Beruhigung seines schlechten Gewissens, waren Phils Versuche, sie zu kontrollieren, wenn er sich schon selber nicht kontrollieren konnte.
Gina hatte damals Nachtschicht gearbeitet und bereits angefangen, Michael die kalte Schulter zu zeigen, wenn er sich ihr zuwandte. Tims Probleme wurden immer offensichtlicher, und ihre Reaktion darauf war, dass sie sich in die Arbeit stürzte und Doppelschichten fuhr, weil sie es nicht ertragen konnte, nach Hause zu kommen und sich um ihren behinderten Sohn zu kümmern. Michael war krank vor Kummer, erschöpft, weil er sich nachts in den Schlaf weinte, und verdammt einsam.
Cynthia war verfügbar und mehr als bereit, ihn von seinen Sorgen abzulenken. Nach diesem ersten Mal hatte er sich gesagt, es werde nicht wieder vorkommen - und das tat es auch nicht, für mindestens ein Jahr. Michael hatte seine Arbeit und Tim, und das war alles, woran er dachte, bis zu diesem Tag im letzten Frühling, als Cynthia Gina erzählte, dass ihr Spülbecken undicht sei.
»Geh rüber und reparier es für sie«, hatte Gina zu Michael gesagt. »Phil ist nie da. Die arme Kleine hat keinen Menschen, der sich um sie kümmert.«
Michael war nicht verliebt in Cynthia und auch nicht so dumm zu glauben, dass sie für ihn solche Gefühle hegte. Im reifen Alter von vierzig hatte er gelernt, dass eine Frau, die einem bereitwillig einen blies, so oft sie einen sah, nicht verliebt war - sondern auf der Suche nach irgendetwas. Vielleicht liebte sie den Kick, Michael in Phils Bett zu bumsen. Vielleicht liebte sie es auch, Gina durchs Küchenfenster zu sehen und zu wissen, dass sie sich etwas nahm, das einer anderen Frau gehörte. Michael konnte es sich nicht leisten, lange über ihre Motive nachzugrübeln. Seine eigenen kannte er nur zu gut. In diesen fünfzehn oder zwanzig Minuten, die er nebenan verbrachte, war sein Hirn
völlig leer, und er dachte weder an die Rechnungen der Spezialisten noch an die Raten für die Hypothek, noch an den Anruf der Kreditkartengesellschaft, die anfragte, wann sie mal wieder etwas Geld erwarten könne. Michael dachte einfach nur an Cynthias perfekten kleinen Mund und seine eigene Lust.
Eines Tages würde sie allerdings etwas verlangen. Er war nicht so blöd, das zu vergessen.
»Yo, Mike!«, rief Leo und klopfte mit den Knöcheln auf Michaels Schreibtisch. »Wach auf.«
»Was ist los?«, fragte Michael und setzte sich auf. Das Revier war leer bis auf die beiden, und Greer hatte sich bei heruntergelassenen Jalousien in seinem Büro eingeschlossen.
Michael deutete zu der geschlossenen Tür. »Holt er sich da drin mal wieder einen runter?«
»Hat 'nen Kerl vom GBl bei sich, der aussieht wie Lurch aus der Addams Family.«
»Warum?«, fragte Michael, aber er wusste, warum. Gestern Abend hatte Greer gesagt, er werde sich bei diesem Fall Hilfe von außen holen, und das Georgia Bureau of Investigation war die nächste Sprosse auf der Hierarchieleiter.
»Er bespricht sich nicht mit mir«, sagte Leo, setzte sich auf Michaels Tischkante und brachte dabei Papiere durcheinander. Er tat das immer, egal, wie oft Michael es ihm verbot.
»Probleme mit der Alten gestern Nacht?«, erkundigte sich Leo.
»Nein«, log Michael und ließ den Blick durch den Bereitschaftssaal streifen. Er war deprimierend und dunkel, und durch die Fensterwand schaute man hinaus auf den schmutzigen Home-Depot-Baumarkt, der die Morgensonne aussperrte. Die City Hall East war ein ehemaliges Sears-Kaufhaus, ein zwölfstöckiges Gebäude am Anfang einer
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