Will Trent 01 - Verstummt
Kurve in der Ponce de Leon Road, das einen ganzen Block einnahm. Ein Eisenbahngleis trennte es von einer alten Ford-Fabrik, die in Luxuslofts umgewandelt worden war. Der Staat hatte das verlassene Sears-Gebäude vor Jahren gekauft und verschiedene Behörden darin untergebracht. Es gab mindestens dreißig verschiedene Dienststellen und über fünfhundert städtische Angestellte. Michael arbeitete seit zehn Jahren dort, aber abgesehen von dem stets überfüllten Parkplatz kannte er nur die drei Stockwerke, die das Atlanta Police Department benutzte, und die Leichenhalle.
»Yo«, wiederholte Leo und klopfte noch einmal auf den Schreibtisch.
Michael stieß sich mit dem Stuhl vom Tisch ab, um ein Stück von Leo wegzukommen. Denn Leo, der Kette rauchte und regelmäßig Schlucke aus der Flasche in seinem Spind nahm, hatte einen Atem wie ein Hundefurz.
»Träumst du von irgendeiner Muschi?«
»Halt's Maul«, blaffte Michael, weil Leo seiner Meinung nach zu sehr ins Schwarze getroffen hatte.
»Ich hab mir überlegt, später mal Ken zu besuchen.« Leo zog eine Mandarine aus der Tasche und schälte sie. »Wie geht's ihm?«
»Okay«, antwortete Michael, doch in Wahrheit hatte er mit Ken eine ganze Woche lang nicht gesprochen. Sie waren eine Weile Partner gewesen und befreundet, bis Ken sich eines Tages an den Arm gefasst hatte und zu Boden gegangen war. Er hatte Michael gerade von einer großartigen Frau erzählt, die er am Abend zuvor kennengelernt hatte, und im ersten Augenblick dachte Michael, dieses Umkippen sei eine Art Witz gewesen. Dann hatte Ken angefangen zu zucken. Sein Mund klappte auf, und er pinkelte auf dem Boden des Bereitschaftssaals in die Hose. Dreiundfünfzig Jahre und plötzlich ein Schlaganfall wie ein alter Mann. Die ganze rechte Seite seines Körpers war hinüber, Arm und Bein so nutzlos wie eine nasse Zeitung. Sein Mund war permanent verzerrt, so dass ihm Sabber aufs Kinn tropfte wie einem Baby.
Keiner von der Truppe wollte ihn sehen oder hören, wie er versuchte zu sprechen. Ken erinnerte sie daran, was die meisten von ihnen vielleicht erwartete. Zu viele Zigaretten, zu viel Alkohol, zwei oder drei in die Brüche gegangene Ehen, und alles endete damit, dass man seine einsamen alten Tage katatonisch vor der Flimmerkiste in irgendeinem beschissenen staatlichen Pflegeheim verbrachte.
Greers Tür ging auf, und ein schlaksiger Mann in einem dreiteiligen Anzug kam heraus. Er trug eine lederne Aktentasche, die in seiner riesigen Hand wie eine Briefmarke aussah. Michael begriff, warum Leo ihn Lurch genannt hatte. Er war groß, über eins neunzig, und dürr wie eine Bohnenstange. Auch seine Oberlippe sah komisch aus, als hätte man sie ihm aufgeschlitzt und schief wieder zusammengenäht. Leo hatte allerdings, wie üblich, die falsche Fernsehserie erwischt. Mit zwei Knubbeln links und rechts am Hals hätte der Kerl bei den Munsters mitspielen können.
»Ormewood«, sagte Greer und winkte ihn zu sich. »Das ist Special Agent Will Trent vom CAT.«
Leo entfaltete seinen üblichen Charme. »Was, zum Teufel, ist CAT?«
»Special Criminal Apprehension Team«, erklärte Greer. Eine Sondereinheit zur Verbrechensfrüherkennung und -bekämpfung.
Michael konnte beinahe spüren, wie Leo sich anstrengen musste, um nicht darauf hinzuweisen, dass die Abkürzung ja SCAT lauten müsse. Es gab nicht viel, was seinen Kollegen verstummen ließ, aber Trent stand sehr dicht bei Leo und überragte ihn um fast dreißig Zentimeter. Die Hände des staatlichen Ermittlers waren groß genug, um Leos Kopf zu umklammern und ihn zu zerdrücken wie eine Kokosnuss.
Leo war ein Idiot, aber blöd war er nicht.
Trent sagte: »Ich gehöre zu einer Sondereinheit des Georgia Bureau of Investigation, die gegründet wurde, um örtliche Strafverfolgungsbehörden bei der Identifikation und Verhaftung von Gewaltkriminellen zu unterstützen. Hier bin ich allerdings ausschließlich als Berater tätig.«
Er redete, als würde er aus einem Lehrbuch vorlesen, und sprach jedes Wort sehr sorgfältig aus. Mit seiner Sprache und seinem dreiteiligen Anzug hätte der Kerl auch ein Professor sein können.
»Michael Ormewood.« Michael ließ sich erweichen und streckte die Hand aus. Trent fasste sie, nicht zu fest, aber auch nicht schlaff, als würde er einen Fisch halten. »Das ist Leo Donnelly«, sagte nun Michael, da Leo damit beschäftigt war, sich eine halbe Mandarine in den Mund zu stopfen, so dass ihm der Saft über den Handrücken
Weitere Kostenlose Bücher